Der Sommer der Schmetterlinge
sorgfältig gedüngten Boden gewachsen, versorgt mit genau der richtigen Menge an Sonne und Regen.
Die Gedenkmesse ein Jahr nach Otacílias Tod stand noch bevor. Es war Juni. 1976. Draußen im Land geschahen ebenfalls verborgene Dinge, man folterte politische Gefangene, damit sie was auch immer gestanden oder verrückt wurden. Oder – eine einfache, aber unerwünschte Lösung – starben. Bei den Folterungen war in der Regel ein Arzt anwesend, der einschätzte, wie viele Schläge oder wie viele Elektroschocks oder wie häufiges Untertauchen der Gefangene noch verkraftete.
Si ch’io vorrei morire , sang Bernardo Águas.
Auf der Fazenda nahe Jabuticabais war kein Platz für solche Dinge. Afonso Olímpio war zu einem elenden, im Kerker seines eigenen Ichs eingesperrten Trinker geworden. Der in der Stille Stimmen hörte und in den Stimmen Stille. Bei vollem Bewusstsein. Umso mehr bei Bewusstsein, je mehr er trank. Gelegentlich tauchte Clarice auf, um ihn zu besuchen, ihren Vater und Feind, stets in Begleitung ihres Mannes. Maria Inês verstand das nicht. Sie wollte diesen Mann vollständig vergessen. Wollte ihn nie wiedersehen, nie wieder auf diese Hände blicken und sie mit der Erinnerung an jenen Tag verbinden müssen, an dem sie sie auf einer blassen Mädchenbrust überrascht hatte. Zugleich wusste sie, dass sie ihn treffen musste. Wenigstens ein Mal noch, ein letztes Mal.
Vielleicht wusste Clarice das auch und versuchte bloß, Zeit zu gewinnen. Mit diesen verlogenen Besuchen, bei denen Ilton Xavier litt und anschließend meinte: Dein armer Vater, so niedergeschlagen seit Dona Otacílias Tod.
Dein armer Vater. Sagte Ilton Xavier, Clarices Mann.Dann legte er sich aufs Bett und las Simenon. Sie schützte Kopfschmerzen vor und verbrachte die schlaflose Nacht damit, das Herrenhaus und seine vielen Säle mit Namen zu durchstreifen. Sie betrat die Küche, in der die Katzen zusammengerollt am erloschenen Herdfeuer schliefen. Ging am Zimmer von Ilton Xaviers Eltern vorbei und hörte das Schnarchen ihres Schwiegervaters. Dabei fiel ihr ein, dass ihre Schwiegermutter sich jede Nacht Wattebäusche in die Ohren steckte. Dann betrachtete sie die schlafenden Vögel in der großen Voliere im Innenhof: aufgeplustert, als wären sie ebenfalls Wattebäusche.
In jenem Jahr bereitete Clarice zum Johannisfest helle und dunkle Kokosplätzchen, Pés-de-Moleque aus karamellisierten Erdnüssen und Canjica-Maispudding zu. Maria Inês kam extra aus Rio, weil die Junifeiern das einzige Fest waren, das sie wirklich mochte. Alle erschienen verkleidet, mit Strohhüten, an denen falsche Zöpfe baumelten, bemalten Wangen, in Flickenhosen, Karohemden, mit Tüchern um den Hals. In bunten Rüschen- oder geblümten Kattunkleidern. Außerdem gab es Spiele: den Apfelsinentanz, die Reise nach Jerusalem, das Angelspiel, die Eleganten Liebesbriefe (was nicht so recht klappte, weil die meisten Dörfler Analphabeten waren). Und die freundliche Atmosphäre, für die auch die bunten, an langen Leinen aufgereihten Wimpel sorgten, die über allem ihren Segen spendeten. Männer tranken heimlich Bohnensuppe mit Cachaça. Maiskolben, Curau-Creme, Paçoca aus gemahlenen Erdnüssen. Das große Feuer, an demman sich versammelte und die Nachtkälte vergaß, über das die Kinder zu springen versuchten, nur um von den Älteren zu hören: Wer mit dem Feuer spielt, pinkelt nachts ins Bett.
Während der Junifeiern fühlte Maria Inês sich immer gut. So gut. An jenem Abend nahm sie ihre Schwester beim Arm und tanzte mit ihr die Quadrilha: Du bist nicht verkleidet, Clarice, du musst den Männerpart übernehmen.
Afonso Olímpio ging nicht zum Fest. Und alle verstanden, dass seine Trauerzeit noch nicht vorbei war. Man bedauerte ihn: der Witwer Afonso Olímpio, ganz allein zu Hause. Die Leute hatten überhaupt viel Mitleid mit Afonso Olímpio und sahen ihm sogar das üble Laster des Alkohols nach, denn er erweckte allenthalben den Anschein eines Opfers, nicht eines Henkers. Und man tuschelte: Diese Tochter, die in Rio de Janeiro wohnt, sollte sich um ihn kümmern. Ja, aber so sind die Kinder, man zieht sie groß, gibt ihnen seine Liebe und dann – nichts. Undankbare Geschöpfe.
Die undankbare Tochter sprang mit den Kindern über das Feuer und spürte, wie ihr Gesicht in der Nachtkälte brannte. Sie hielt den Saum ihres Kleides fest und entblößte ihre weißen, bis zu den Knien reichenden Strümpfe. Ihre Füße in den Lackschuhen schleuderte sie hoch in den dunklen,
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