Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Zicken?
Andererseits konnte ich es mir nicht leisten, wählerisch zu sein. Womöglich waren die überheblichen Zicken die einzigen Leute, mit denen ich diesen Sommer in Kontakt kommen würde. Eine schwarze Wolke senkte sich auf mich, und wie wundervoll und sonnig es draußen auch sein mochte, ich konnte das Gefühl einfach nicht abschütteln.
Am Abend zog ich mich in mein Zimmer zurück, während die anderen in Beths Zimmer Filme guckten. Eine Stunde lang führte ich Tagebuch und kletterte dann aus dem Fenster auf das Dach. Still und leise schlich ich an Beths Fenster vorbei zu dem Rosengitter an der Seitenwand des Hauses. Man konnte leicht daran hinunterklettern, und mit einem Sprung landete ich auf dem Boden.
Missmutig stapfte ich am Strand entlang. Ein leichter Sprühregen kitzelte meine Wangen, aber ich lief immer weiter und dachte wieder an die Mädchen, die mit ihren Traumfiguren am Strand lagen, ihren Körpern, die sie stolz zur Schau stellten, ob beim Tanzen oder beim Baden. Jeder hier suchte ihre Nähe, sogar Leute wie Simon. Sogar Leute wie ich. Aus unerfindlichen Gründen schienen sie mich gegen meinen Willen magisch anzuziehen. Unwillkürlich wünschte ich mir, ihnen ähnlicher zu sein. Oder ihnen wenigstens ähnlicher zu sehen.
In der Nähe von Simons Haus war ein Strandabschnitt von Flutlichtern hell erleuchtet. Als ich am Garten vorbeiging, blickte ich vom grellweißen Sand aus den Plattenweg hinauf. Doch ich sah nur dunkle Rasenflächen und die gespenstische Silhouette des Gartenpavillons. Im Haus brannte kein Licht. Nirgendwo ein Lebenszeichen.
Trotz allem, was mir Corinne über Simon erzählt hatte, war ich ein wenig neugierig auf ihn. Doch ich verbot es mir. Meine Ferien waren nicht dazu da, mich mit einem redegewandten Typen anzufreunden. Schließlich versuchte ich gerade, einen anderen zu vergessen.
An die folgenden Tage erinnere ich mich nur noch verschwommen als Aneinanderreihung schmerzlicher Momente – bissige Bemerkungen von Gen, taktlose Kommentare meiner Mutter, Fetzen von spannungsgeladenen Gesprächen zwischen meinen Eltern. Doch in der Dunkelheit löste sich alles auf. Ich kletterte aufs Dach und dann am Rosenspalier hinunter. Anschließend marschierte ich los, genoss die Einsamkeit und leisen Geräusche der Nacht. Endlich fühlte ich mich im Urlaub.
In klaren Nächten blickte ich hinauf zu den Sternen und versuchte, Konstellationen zu erkennen. Zum fünfzehnten Geburtstag hatte mir mein Vater ein Teleskop geschenkt. Ich hatte mir die wichtigsten Sternbilder eingeprägt und manches über komplizierte Phänomene wie Schwarze Löcher gelernt. Besonders die Schwarzen Löcher waren mir im Gedächtnis geblieben: ein Nichts, das dennoch eine enorme Masse besitzt. Unsichtbare astronomische Objekte, die alles in ihrer Umgebung in sich hineinzogen und verschluckten. Sie waren tödlich, sie waren dort draußen, aber man konnte sie nicht erkennen. Sie faszinierten mich, und ich konnte ihre Natur immer noch nicht erfassen, egal, wie viele Bücher ich über das Universum las.
Wie kann Etwas gleichzeitig Nichts sein?
Die meisten Leute finden Physik langweilig, doch ich habe dabei Erstaunliches gelernt. Man sieht die Welt mit anderen Augen, wenn man einmal weiß, dass mehr dahintersteckt, als einem die eigene Wahrnehmung zeigt. So ging es mir, nachdem ich erfahren hatte, dass Farbe nur durch Lichtreflexion entsteht und dass Materie nicht fest ist, sondern aus unzähligen, beweglichen Atomen aufgebaut ist, die einander umkreisen und keinen Moment stillstehen.
Materie ist nicht fest.
Farbe ist nur eine Reflexion.
Nichts kann Etwas sein.
Oft betrachtete ich meine Umwelt – das dunkle Meer, den Nachthimmel, die Sterne – und fragte mich, was auf dieser Welt »Wirklichkeit« war und was »Wirklichkeit« überhaupt bedeutete.
»Daisy!«
Ich stieß einen kleinen Schrei aus und wich mit einem Satz vor der tiefen Reibeisenstimme zurück, die eines Abends kurz nach dem schlechten Wetter plötzlich die Strandstille zerriss. »Hast du mich erschreckt!«, sagte ich überflüssigerweise, als Simon mich makaber angrinste, eine Taschenlampe unter dem Kinn.
»Damit erschreckst du mich allerdings nicht«, fügte ich hinzu.
»Du solltest nicht um ein Uhr nachts allein spazieren gehen«, bemerkte er.
»Warum nicht?«
»Weil sich Leute wie ich hier rumtreiben, deswegen.« Er passte seine Schritte meinem Tempo an. »Schräge Gestalten, die wie verirrte Seelen durch die Nacht
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