Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
schweifen.«
»Vielleicht bin ich eine von ihnen.« Ich blieb stehen, um ein Stück Muschelschale zwischen meinen Zehen herauszupulen. Dann fragte ich: »Was machst du denn hier draußen?«, und gleich danach: »Und wo hast du eigentlich die ganze Woche über gesteckt?« Sofort tat es mir wieder leid. Ich wollte ihn nicht auf die Idee bringen, dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte.
»Ich komme nachts hier runter, um zu rauchen. Und um schwimmen zu gehen.« Simon schnippte sein Feuerzeug an – eines dieser Mini-Feuerwerfer –, und im Schein der orangefarbenen Flamme erhaschte ich einen Blick auf seine ausgeprägten, knochigen Gesichtszüge und seine großen Hände. »Wir waren die ganze Woche über in der Stadt. Mein Vater hatte geschäftlich dort zu tun. Er hat gedacht, ich würde mir die Columbia Universität ansehen, aber ich habe stattdessen gefaulenzt und Kunstgalerien besucht.«
»Warum?«, fragte ich und murmelte dann: »Ach, geht mich ja im Grunde nichts an.«
»Schon okay«, sagte Simon gutgelaunt. Er zog an seiner Zigarette, und die Spitze glühte in der Dunkelheit auf. »Mein Vater will mich nach Wharton schicken, wenn ich nächstes Jahr mit der Schule fertig bin. Eine berühmte Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in Pennsylvania«, ergänzte er, als er meine ahnungslose Miene sah. »Betriebswirtschaft!«, schnaubte Simon. »Ich!«
Nein, das schien wirklich nicht zu Simon zu passen. Seine altmodische Art und seine blumige Ausdrucksweise auf einer Wirtschaftsfachhochschule? Besser nicht.
»Meine Mutter hat meinen Vater schließlich dazu überredet, mich einmal die Wirtschaftsfakultät der Columbia Universität ansehen zu lassen«, fuhr Simon fort. »Als Kompromiss, falls es mir in Wharton nicht gefallen sollte. Dabei habe ich nicht die geringste Lust auf einen Columbia-Kompromiss.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Columbia gehört zur Ivy League.« Ivy League war ein Sammelbegriff für die besten Universitäten im Osten des Landes. Ich grinste in mich hinein. Wenn wir über Colleges diskutierten, kam für meine Mutter kein anderes als eines aus der Ivy League in Frage, denn die waren nichts für die Lower Class. Sie garantierten Prestige und waren daher das einzig Richtige. Wenn junge Leute aus der Lower Class aufgenommen wurden, so bildeten sie doch die Ausnahme, nicht die Regel. So funktionierte das Denken meiner Mutter.
»Columbia ist wirklich eine gute Universität«, ergänzte ich, weil mir meine Anspielung auf die Ivy League peinlich war.
Simon lachte. »Das ist sie ganz sicher, aber ich will gar nicht aufs College gehen.« Er schwieg und klopfte seine Zigarettenasche ab. »Und wenn, würde ich garantiert nicht Betriebswirtschaft studieren«, fügte er hinzu. »Aber mein Vater ist so verbohrt! Für ihn muss es unbedingt Wharton sein. Die meisten Studenten machen dort ihren Master of Business Administration, aber mein Vater will, dass ich mich gleich für ein höheres Semester einschreibe und die Zwischenprüfungen vorziehe, um dadurch einen Vorsprung vor den anderen zu gewinnen. Absurd!«
Erneut zog Simon an seiner Zigarette. »Selbst für den Fall, dass meine Noten nicht gut genug wären, hat er schon vorgesorgt, indem er der Schule Geld gespendet hat. Und er hat beste Beziehungen zu den richtigen Leuten«, fügte er hinzu, und ein verbitterter Unterton schwang in seiner sonst eher amüsierten Stimme mit. »Er ist zu allem bereit, um mich durchzuboxen.«
»Aha«, sagte ich und fühlte mich durch die Intensität in Simons Stimme plötzlich unbehaglich. Es war, als sende er durchdringende Radiowellen aus, und zwar nicht nur durch seine Stimme. Es lag an seiner ganzen Körpersprache – die Art, wie er den Kopf zurückwarf und mit langen Schritten losmarschierte, dann wieder umdrehte und zurückkehrte. Alles an Simon schien spannungsgeladen, als könne er jeden Moment hochgehen wie eine Rakete.
»Es ist schon ziemlich hart für meinen Vater«, meinte Simon. »Eigentlich möchte ich nach der Schule erst mal mit dem Rucksack durch Europa reisen. Aber für so etwas hat er überhaupt kein Verständnis.« Er schnaubte. »Von Geburt an hat er mich auf ein Wirtschaftsstudium dressiert. Und jetzt wundert er sich, warum ich nicht will.«
»Willst du gar nicht studieren?« Ich versuchte, mir die Reaktion meiner Eltern vorzustellen, wenn ich nach der Schule mit dem Rucksack durch Europa reisen wollte. Aber mir fehlte die Phantasie. Schon im letzten Schuljahr hatte ich mich ungeheuer
Weitere Kostenlose Bücher