Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
ich gehört habe, sind wir Nachbarn?«
»Ja«, antwortete ich und schüttelte seine ausgestreckte Hand. »Ich bin zu Besuch bei meinem Onkel und meiner Tante.«
»Haben wir die beiden nicht letztes Jahr bei einer Benefizveranstaltung kennengelernt, Schatz?«, erkundigte sich Mr Ross mit seiner tiefen Stimme bei seiner Frau und lächelte sie fragend an. Mir fiel auf, dass er stahlgraue Augen hatte, dunkler als die von Simon, aber genauso gesprenkelt und durchdringend. Allerdings lag in Mr Ross’ Blick eine gewisse Härte – etwas Berechnendes, Einschüchterndes. Wenn er mir in die Augen sah, hätte ich am liebsten den Blick abgewandt.
»Wie sollten unsere Nachbarn wirklich einmal einladen, nicht wahr, Karen? Wir waren dieses Jahr bisher ein bisschen ungesellig im Urlaub«, fuhr Mr Ross mit einem leisen Lachen an mich gewandt fort. »Aber es freut mich, dass Simon Anschluss gefunden hat.«
Simon schwieg, ebenso wie seine Mutter. Als Mrs Ross verschwand und kurz darauf mit einem Tablett Eistee zurückkehrte, sah ich, dass Simon nervös wurde. Doch Mr Ross hatte mich bereits in ein Gespräch verwickelt. Er fragte mich, wo ich aufgewachsen sei und welche Pläne ich für das College hege. Er schien erfreut, als ich ihm erzählte, ich interessiere mich für Ozeanographie. »Eine junge Frau mit klaren Zielen, das gefällt mir«, verkündete er laut und fragte dann: »Bleibst du zum Mittagessen?« Er klang eher nach einer Feststellung als nach einer Frage.
»Nein, wir wollen ein Picknick machen«, erwiderte Simon. »Draußen am Georgica Pond.« Das war eine spontane Eingebung, aber als ich ihn anblickte, lächelte er mich an. Ich wusste, dass er gerade erkannt hatte, was für eine prima Idee das war.
Wir verabschiedeten uns und gingen um das Haus herum. Erleichtert sahen wir uns an. Uff, die Flucht war geglückt! Wir näherten uns der Garage, vor der zwei exklusive neue Autos warteten. Doch Simon marschierte an ihnen vorbei und betrat die Garage. Im Inneren stand der Oldtimer, das buttergelbe Cabrio, mit dem ich ihn neulich auf der Dune Road gesehen hatte.
»Mein Vater hat ihn auf einer Autoshow in Sag Harbour gekauft. Er muss einen Sonnenstich gehabt haben, denn sonst kauft er nie etwas Hübsches. Ich darf allerdings nicht damit fahren. Er hat bisher nicht mal die Straßenzulassung. Aber …« Simons Augen funkelten, als er die Motorhaube tätschelte, »… dieser tolle Schlitten bringt uns heute zum Georgica Pond. Er war schon ein paar Mal draußen. Er schafft das schon.«
Ich fragte: »Wie will dein Vater ihn denn nach Minnesota bringen?« Das Auto war wunderschön, aber auch sehr alt und bestimmt würde es den Weg quer durch den halben Kontinent nicht schaffen.
»Tja, das ist die große Frage.« Simon schüttelte den Kopf. »Typisch. Immer nur kaufen. Wenn er kein Geld ausgibt, fühlt er sich nicht wohl. Keine Ahnung. Wahrscheinlich lässt er es von FedEx nach Hause fliegen.«
»Hat es ein Nummernschild?«, fragte ich und strich mit einer Hand über die glänzenden Ledersitze. Ein schwacher Duft stieg mir in die Nase, eine Mischung aus Parfüm, Rauch und Meeresgischt.
»Steig einfach ein.« Simon warf mir ein Lausbubengrinsen zu, und ich rutschte auf den Beifahrersitz. Nicht auszudenken, was Mr Ross mit Simon anstellen würde, wenn er mit seinem schicken neuen Auto von unserem Ausflug zurückkäme. Vorausgesetzt, es schaffte den Rückweg überhaupt.
»Du wirst eine Menge Ärger bekommen«, sagte ich, als Simon den Motor anließ, aber er sah mich nur an und lachte.
»Typisch Mia. Du lebst immer in der Zukunft. Einen Schritt voraus, immer in der Planung.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich, als der Motor schnurrend zum Leben erwachte.
Simon streckte den Arm aus und streichelte mir sanft über die Wange, immer noch mit diesem durchtriebenen Grinsen im Gesicht. »Willkommen im Hier und Jetzt, Mia. Lehn dich zurück und genieß es.«
Und damit bog er mit quietschenden Reifen auf die Hauptstraße ab.
Minuten später kümmerte mich rein gar nichts mehr – weder Mr Ross noch was mich in Wind Song erwartete, einfach überhaupt nichts –, und auch Simon schien alles egal zu sein. Er wirkte entspannt, seine grauen Augen blickten hell und klar, seine Haare wehten und lockten sich über seinen Wangenknochen. Immer wieder warf ich ihm verstohlene Seitenblicke zu.
Jedes Mal, wenn ich sein Profil sah, durchfuhr mich ein freudiger Stich. Ich hatte ihn geküsst! Er hatte mich geküsst! Und jetzt waren
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