Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
unterstrich ihre Aussage mit einer Geste. Dann ließ sie die Hand sinken. »Aber man kann diese Fassade nicht ewig aufrechterhalten.«
Ich lehnte mich zurück und blickte hinauf in den dunklen Nachthimmel. Über uns erschienen zwischen den Wolken die Sterne wie verschwommene Nadelstiche, und ich starrte sie verbissen an. Sie waren der einzige Fixpunkt, an den ich noch anknüpfen konnte. Im Laufe meiner Ferien schien sich alles, was ich für selbstverständlich gehalten hatte, als Mythos zu erweisen. Gegebenheiten und Menschen, die ich geglaubt hatte zu kennen, erwiesen sich als das Gegenteil dessen, für das ich sie gehalten hatte. Das galt sogar für mich selbst. Ich drehte mich hierhin und dorthin in dem Versuch, anders zu sein …
Aber nicht alles ist schlecht, sagte ich mir mit dem Gedanken an Simon. Wenn mir vor wenigen Monaten jemand prophezeit hätte, dass ich mich in diesem Sommer in einen Jungen verlieben würde – in dem Sommer, in dem ich eigentlich das L-Wort krampfhaft zu vergessen versuchte –, hätte ich es nicht für möglich gehalten. Doch jetzt ließ ich zu, dass es passierte … Eine positive Überraschung machte die negativen jedoch nicht ungeschehen.
Meine Tante und mein Onkel hatten mich getäuscht. Schlimmer noch: Wenn die Ehe von Onkel Rufus und Tante Kathleen – dem Bilderbuchpaar unserer Familie – in Verbitterung und Untreue geendet hatte, was sagte das dann über die Liebe? Komisch, wenn ich hinauf zu den Sternen blickte, wusste ich auch, dass manche von ihnen bereits nicht mehr existierten. Die Lichtpunkte waren nur Erinnerungen an die Sterne, die schon seit langer, langer Zeit erloschen waren. Wie Tante Kathleen und Onkel Rufus.
»Lass uns runter an den Strand gehen«, schlug ich plötzlich vor. Ich konnte nicht länger so dasitzen. Ich wollte nicht mehr grübeln. »Da lang«, sagte ich zu Corinne und zeigte ihr, wie ich die Beine auf das Rosenspalier schwang und nach unten in den Sand sprang.
»Alle Achtung«, bemerkte Corinne mit einem unterdrückten Lachen. »Das machst du wohl nicht zum ersten Mal.«
»Ich bin Profi.«
Corinne glitt am Gestell hinunter und kam fast lautlos neben der Terrasse auf.
»Du bist leicht wie eine Feder«, bemerkte ich nach ihrer leisen Landung.
Corinne lachte in der Dunkelheit und erwiderte: »Das hat nichts mit dem Gewicht zu tun, sondern mit dem Balletttraining. Die Illusion der Schwerelosigkeit.«
Als wir unterwegs zum Meer an den Dünen vorbeikamen, holte ich tief Luft. Ich hatte mir etwas vorgenommen. »Bist du schon mal nachts schwimmen gegangen?«, fragte ich Corinne.
»Bist du bescheuert? Ich gehe nie irgendwo schwimmen, wo ich meine Beine nicht sehen kann.«
»Ich dachte, du wärst so abenteuerlustig«, neckte ich sie, als wir auf die Gezeitenlinie blickten und dem Zischen und Rauschen der kleinen Wellen lauschten, die sich auf dem Sand brachen. »Es ist Ebbe«, fügte ich hinzu. »Komm schon!«
»Warst du schon mal nachts im Wasser?«
»Ja, schon oft«, antwortete ich. »Mit Simon«, fügte ich wie nebenbei hinzu, während ich meine Baumwollbluse aufknöpfte.
»Nacktbaden mit Simon! Alles klar!« Corinne lachte. Sie schlängelte sich aus ihren Designer-Jeans und streifte ihr T-Shirt ab. »Also hast du tatsächlich in den Ferien ein paar Dummheiten angestellt. Wie heißt es so schön? Stille Wasser sind tief!«
»Nicht wirklich«, gab ich zögerlich zu. Mir gefiel die Vorstellung, dass mich Corinne für eine freie, abenteuerlustige Seele hielt, aber ich hing immer noch zu sehr an meinem alten Selbst, um lügen zu können: Ich hatte nicht mit Simon nackt gebadet. Ich hatte zu große Angst davor. Schon mit Corinne zusammen nackt zu baden machte mich nervös genug.
Doch als wir zum Wasser liefen, mit wehenden Haaren, den Nervenkitzel des Ozeans vor uns, flogen meine Sorgen davon und ließen mich leicht wie ein Blatt zurück. Die Illusion der Schwerelosigkeit. Corinne nahm meine Hand, und als mich das Wasser in der Dunkelheit aufnahm, erschien mir die Welt als ein Ort, an dem alles möglich und alles verzeihlich war.
Ich war ein Fisch. Ich tauchte und schwamm unter Wasser, ungehemmt, und nichts trennte mich von meiner Umgebung. So fühlte sich Nacktbaden also an.
Nach meinem ersten Bad ganz ohne Kleider hatte ich keine Lust mehr, nachts mit Bikini zu schwimmen. Es war, als hätte ich meinen Körper vergessen und sei zu etwas anderem geworden. Zugleich war es irgendwie vertraut. Ich kam aus dem Wasser mit einem Gefühl für
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