Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
mich selbst, das mir lange Zeit gefehlt hatte. Es war keine gewaltige Erschütterung, sondern eher, als fände man etwas wieder, was man lange Zeit verlegt hatte: ein Lieblingsshirt, vielleicht mit ein paar Löchern darin, aber das gemütlichste von allen, das kein noch so schönes neues ersetzen konnte.
Danach erschien mir die Vorstellung, einen Bikini anzuziehen, geradezu lächerlich. Mich allerdings neben Simon auszuziehen fiel mir schwer. Noch nie hatte ich mich einem Jungen nackt gezeigt.
»Aber ich kann dich doch gar nicht richtig erkennen«, drängte Simon, als wir weit nach Mitternacht am Indigo Beach saßen. Ich hatte ihm von meinem Erlebnis mit Corinne am Abend zuvor erzählt, und er war fest entschlossen, mich zum Nacktbaden mit ihm zu überreden. »Heute Abend scheint nicht mal der Mond.«
»Du kannst ausgezeichnet sehen«, erwiderte ich und kuschelte mich mit dem Rücken an Simons Brust, seine Arme lagen fest um mich. Ich hatte eine Decke mitgebracht, weil ich wusste, dass wir eine Weile hier draußen sein würden. Simon lehnte sich auf die Ellbogen, so dass mein Kopf auf seinem straffen Bauch lag: die perfekte Sternenguckerposition. Bei uns zu Hause war der Himmel oft sehr klar, und ich hatte viel Zeit damit verbracht, mit meinem Teleskop den Himmel zu erkunden. Aber es gibt nichts Besseres, als vom Strand aus in den Sternenhimmel zu schauen, der an diesem Abend wolkenlos war. Die Sterne leuchteten so hell, dass ich nicht nur den Großen Wagen und die anderen üblichen Verdächtigen ausmachen konnte, sondern sogar die Konstellationen Kassiopeia und Leier. Ich bildete mir sogar ein, Schwarze Löcher erkennen zu können.
»Weißt du, was ein Schwarzes Loch ist?«, fragte ich Simon herausfordernd.
»Ein Begriff für das Bankkonto meines Vaters dieser Tage«, konterte Simon und fügte scherzhaft hinzu: »Oder meinst du die anderen? Diese großen Löcher im Universum, die einen einsaugen können, wenn man zufällig auf dem Weg in eine andere Galaxie daran vorbeischwebt?«
»Es sind keine richtigen Löcher«, korrigierte ich, während ich hinauf in den dunklen, mondlosen Himmel blickte. »Im Gegenteil: Sie sind das einzige wirklich Solide im Universum. Und weil sie so solide sind, haben sie eine so gewaltige Schwerkraft – alles in ihrer Umgebung wird angezogen.«
»Wenn sie solide sind, warum nennt man sie dann Löcher?«
Ich erzählte Simon, dass es sich bei Schwarzen Löchern um Sterne handelte, die kollabiert und gestorben waren. Und obwohl sie aussahen wie Löcher, waren sie eigentlich keine, sondern die Art von Materie mit der größten bekannten Dichte.
»Sie sind also das Gegenteil von einem Loch.«
»Ja …« Ich legte eine Pause ein. »Was in ein Schwarzes Loch gerät, kommt nicht mehr heraus. Ein Schwarzes Loch hält alles in sich gefangen, sogar das Licht.«
»Wie du«, sagte Simon leise.
»Was willst du denn damit sagen?« Ich verdrehte den Kopf, so dass ich die dunklen Umrisse seines Gesichts erkennen konnte.
»Du bist schön, Mia. Aber du hältst alles Licht in dir zurück. Du zeigst es nicht.«
Für einen Moment war ich sprachlos. Schön. Das Wort überwältigte mich. Es besaß so viel Kraft! Und es war mir peinlich, dass ich es so sehr hören wollte. »Du redest wirres Zeug«, wehrte ich ab. »Und du bist so was von sentimental«, fügte ich hinzu und schlug Simon leicht mit der Faust auf die Brust.
»Was ist denn sentimental daran, jemanden mit einem Schwarzen Loch zu vergleichen?«
»Nichts«, musste ich grinsend zugeben. Dann blickte ich wieder in den Himmel. Schön. Ich konnte das Wort fast berühren. So lange hatte ich mich danach gesehnt! Nicht mal Jake, der so freigebig mit Komplimenten um sich geworfen hatte, hatte mich so genannt. Als ich es hörte, wurde mir bewusst, wie sehr ich mir gewünscht hatte, es zu hören.
»Aber ich halte nichts zurück, vor niemandem«, entgegnete ich nach einer Weile. »Ich bin so, wie ich bin. Ich bin nicht …« Ich wusste nicht mehr weiter. Ich dachte an Corinne. Und an Gen. Und an Stacy. An all diese selbstbewussten Mädchen, die mich in den Schatten stellten.
»Doch, du bist«, brummte Simon mit seiner heiseren Stimme. Er klang so sicher, so überzeugt, dass ich ihn küssen musste. »Aber du bist zurückhaltend. Und das ist gut so.« Als Simons Lippen meine berührten, drehte ich mich in seinen Armen um, bis meine Hände in seinem Nacken lagen, die Finger in seinen dicken Haaren. »Die anderen Mädchen sind alle nur
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