Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
glaubte immer noch, dass sie mich besser verstand, als meine eigene Mutter es jemals könnte. Schließlich war auch Tante Kathleen einmal jung und verliebt gewesen. Es war lange her, aber immerhin.
Dad neigte den Kopf schief und lächelte ansatzweise. Aber er sagte erst einmal eine Weile nichts, bis wir den Southampton Surfclub erreichten. Vor dem kleinen, niedrigen Holzgebäude glitzerte eine lange Reihe von leeren Stühlen taufeucht im dunstigen Morgenlicht.
»Wenn eine der beiden eine Neigung zur Romantik hat, dann deine Mutter, Mia.«
Ich sah meine Mutter vor mir, das Gesicht zerfurcht vor Sorge und Frustration, ihre Mundwinkel, die so oft missbilligend hinuntergezogen waren, es sei denn, sie sah Eva an oder sie ging ausnahmsweise – ausnahmsweise! – mit Dad zum Essen aus. Dann sah sie manchmal glücklich aus – so glücklich, wie sie eben sein konnte.
Früher hatte ich oft beobachtet, wie sie an solchen Abenden Lippenstift auflegte und ihre Handgelenke mit ihrem Parfüm betupfte. Chanel No. 5. Als Kind duftete es für mich nach Vorfreude. Nach Restaurants mit Kerzen auf den Tischen und langstieligen Gläsern mit Rotwein in der Farbe von Moms Lippenstift. Ich weiß noch, wie ich immer in der Tür stand und zusah, wie sich Mom an ihrem Frisiertisch zurechtmachte, den Mund leicht öffnete und den Lippenstift auftrug. Sie hatte ihre weicheren Momente, aber romantisch? Romantischer als Tante Kathleen? Auf gar keinen Fall!
»Wusstest du, dass deine Mutter jede Menge Heiratsanträge von wohlhabenden Männern der High Society erhalten hat, nachdem sie Miss New York geworden war?«, fragte Dad, als wir den Ausguck des Bademeisters passierten. »Damals hatte ihre Familie all ihr Geld verloren, dabei war sie doch an Luxus gewöhnt. Trotzdem hat sie sich für mich entschieden. Einen ganz normalen Mann aus Georgia, dessen Familie einen kleinen Baumarkt betrieb.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die lichter werdenden Haare. »Das nenne ich romantisch.«
»Kann schon sein«, erwiderte ich. Aber ich dachte noch immer an das, was Dad eben gesagt hatte. Jede Menge Heiratsanträge von wohlhabenden Männern der High Society. Männern wie Shep?
Dads Lächeln verschwand und er wurde ernst. »Vielleicht sollte ich dir das nicht erzählen, Mia, aber deine Tante …« Er fuhr mit einer Hand durch die Luft. »Sie hat deinen Onkel hauptsächlich geheiratet, weil sie dadurch selbst die gesellschaftliche Leiter hochgestiegen ist. Ich habe Kathleen damals gekannt, und sie war eine berechnende Frau. Versteh’ mich nicht falsch … Sie war schon immer eine lebendige, warmherzige Person mit einem ganz besonderen Charme. Aber sie war auch taff.
Sie war niemals eine Romantikerin. Sie wollte ein gutes Leben, und sie hat deinen Onkel aus strategischen Gründen geheiratet. Damit will ich nicht sagen, dass sie sich nichts aus ihm gemacht hat, nur, dass ihre Liebe viel mit dem Leben zu tun hatte, was er ihr bieten konnte – ein Leben, an das sie gewöhnt war und das ihre Familie ihr nicht länger ermöglichen konnte.«
»Woher willst du wissen, was sie wollte?«, entgegnete ich gereizt. Ich hatte genug von meiner Tante gehört. Ich wollte nicht, dass mein Dad auch noch das wenige verdarb, was ich noch an ihr bewunderte.
»Weil sie es deiner Mutter erzählt hat«, erklärte mein Vater ruhig. »Kathleen und Rufus … haben Probleme. Deine Mutter hat versucht, deine Tante dazu zu überreden, es noch einmal zu versuchen, aber es könnte sein, dass die Ehe zerbricht. Ich habe deiner Mutter geraten, sich rauszuhalten, denn ein sinkendes Schiff kann man nicht retten, aber sie ist eben eine Romantikerin …« Er warf mir ein müdes Lächeln zu. »All das hat sie in letzter Zeit gefühlsmäßig sehr stark belastet. Du kennst doch deine Mutter – sie nimmt immer alles so schwer.«
Ich ließ mir die Worte meines Vaters durch den Kopf gehen und wurde von einer heißen Welle der Scham erfasst. Ich sah den angespannten Blick meiner Mutter vor mir, mit dem sie meine Tante ansah. Schon den ganzen Sommer hatte ich den Eindruck, ihre Körperhaltung drücke irgendeine unbewusste Belastung aus. Ich hatte gedacht, sie wäre neidisch und gereizt, dabei hatte sie sich Sorgen gemacht. Nie und nimmer wäre ich darauf gekommen, dass sie sich um Tante Kathleen Sorgen machte.
»Es tut mir leid, deine Illusionen zu zerstören«, seufzte Dad und legte mir den Arm um die Schultern, als wir umdrehten und wieder nach Hause gingen. »Aber ich glaube, du
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