Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
immer mit ihren wahren Persönlichkeiten verwechselt hatte. Tränen brannten mir unter den Augenlidern.
Doch das mit Simon und mir, das war keine Lüge. Dieser Teil des Sommers war Wirklichkeit. Wirklicher als alles andere, was ich kannte. Und jetzt, wo vieles so düster und hoffnungslos aussah, wusste ich, dass ich Simon festhalten musste. Komme, was da wolle.
Spät am Abend stand ich in meinem dunklen Fenster und ließ meine Taschenlampe dreimal aufblitzen. Weiter oben am Strand durchstach eine Lichtnadel die Dunkelheit, dreimal, wie ich es erwartet hatte. Mein Herz machte einen Sprung. Ich hatte dunkle Ränder, tiefer als Schlaglöcher, unter den Augen durch all die langen Nächte mit Simon, aber das Adrenalin hielt mich aufrecht. Meine Augenlider blieben offen wie angeklebt und mein Inneres verschlang sich zu Seemannsknoten, als ich aus dem Fenster schlüpfte und das Rankgestell hinunter auf den Weg kletterte. Am Strand fühlte sich alles – das Klatschen der Wellen, die feuchte Nachtluft auf meiner Haut – intensiver und lebendiger an, so wie alle Dinge, wenn man halbtot vor Müdigkeit ist.
Ich rannte auf Simon zu, und wir gingen zusammen zum Indigo Beach. Dort angekommen, dachte ich nicht lange nach, sondern streifte gleich mein T-Shirt über den Kopf und schlüpfte aus meinen Shorts. Diesmal war ich nicht mehr nervös, als mir Simon beim Inswasserwaten die Hand auf den unteren Rücken legte. Sie fühlte sich warm und beruhigend an, und die Wärme breitete sich in mir aus, bis ich mich umdrehte, Simon an mich zog und ihn so leidenschaftlich küsste, dass ich damit alles ausdrückte, was ich ihm sagen wollte.
Ich wusste, dass die Ferien nicht für immer dauern würden, und keiner von uns wollte sich damit auseinandersetzen, wie unser Leben aussehen würde, wenn wir einander verlassen mussten. Doch das Hier und Jetzt war zum Greifen nah, und ich dachte nicht daran, es mir entgehen zu lassen.
Wagemutig. Den Moment ausleben. Nur wenige Wochen zuvor – oder waren es Tage? – war ich vorsichtig, verhalten gewesen. Doch jetzt fühlte ich mich, als sei ich aus meinem Kokon geschlüpft, ein neues Wesen mit der Fähigkeit zu fliegen. Wer hätte das gedacht?
Ich quietschte vor Lachen und spritzte Simon nass. Wir umarmten uns. Nackt um zwei Uhr morgens. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu sein. Mit jemand anderem zusammen. Die Verrücktheit des Augenblicks fand ihr Gegengewicht in der Überzeugung, dass ich Simon hundertprozentig vertrauen konnte. Indem ich ihm meine verletzlichste Seite zeigte, hatte ich ihm einen geheimen Winkel in mir aufgeschlossen, und es herrschte ein Vertrauen zwischen uns, das es vorher so nicht hätte geben können. Ein weiteres Paradoxon, das ich gelernt hatte. Ich dachte darüber nach – wie ich Simon nie so nahe hätte kommen können, wenn ich mich ihm nicht verletzlich gezeigt hätte. Man muss Risiken eingehen, um sich letztendlich bei einem anderen sicher zu fühlen. Bei näherer Analyse erscheint das vollkommen unlogisch, aber es ist wahr.
Als wir auf unsere Handtücher sanken, berührte ich Simons Gesicht mit den Fingerspitzen. Ich brauchte nicht mehr Licht, um ihn zu sehen. Ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck vorstellen und wusste, es lag Liebe darin – zu mir. Er legte sich auf mich und seine Brust auf meiner fühlte sich schwer und leicht zugleich an, ein berauschender Schock, der mich ganz ruhig werden ließ.
»Du vertraust mir doch, oder?«, flüsterte Simon zwischen zwei Küssen.
Ich nickte. Ich hatte keine Angst. Ich schloss die Augen, aber erst, nachdem ich einen Blick auf den Polarstern erhascht hatte, den einzigen Stern auf der Nordhalbkugel der Erde, der sich nie mit dem Nachthimmel zu bewegen scheint. Wenn man danach Ausschau hielt, fand man ihn jeden Abend am gleichen Ort, egal, zu welcher Jahreszeit oder von welchem Standort aus. Und er leuchtete genau über uns. Ich lächelte.
»Was ist denn?«, fragte Simon, während er mit den Fingerspitzen kleine kitzelnde Kreise auf meinem Brustkorb schrieb.
Ich holte tief Luft. »Ich habe gerade das Gefühl, genau zu wissen, wo ich bin.« Ich zeigte hinauf in den Himmel, und Simon drehte sich halb zur Seite und folgte meinem ausgestreckten Finger. »Siehst du den Polarstern?«
»Auch als Nordstern bekannt«, fügte Simon hinzu. »Guck nicht so überrascht, ich sehe auch ab und zu Wissenschaftssendungen.«
»Ich bin beeindruckt«, lachte ich, und wir blickten beide hinauf zu dem hellen
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