Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
bist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Oder jedenfalls so viel von der Wahrheit, wie irgendeiner von uns erahnen kann …«
Ich nickte, brachte aber kein Wort heraus. Womit würde ich in diesem Sommer noch konfrontiert werden? Mein Leben lang hatte ich meine Tante und Corinne vergöttert, Bilderbuchfrauen in einer Bilderbuchfamilie. Jetzt, wo die Wahrheit ans Licht kam, wusste ich nicht, was ich denken sollte. Alle waren mir plötzlich fremd. Was ist eigentlich so toll an der Wahrheit?, fragte ich mich verbittert. Ich habe nicht darum gebeten. Vielleicht sollte man Illusionen nicht zerstören. Denn ohne sie sah alles kaputt und hässlich aus.
Ich blickte hinaus aufs Meer zu einem kleinen weißen Segelboot, das vorüberglitt. Es erinnerte mich daran, was Corinne mir bei meiner Ankunft erzählt hatte: dass Bootsbesitzer ihre eigenen Yachten losschnitten und abtreiben ließen, weil sie die Hafenmiete nicht mehr bezahlen konnten. Gegenstände, die einst wertgeschätzt wurden, verrosteten jetzt hinter einer Düne oder im Schilf.
Was für ein merkwürdiger Sommer.
»Dad«, begann ich nervös und leckte mir über die trockenen Lippen. Er hatte Mom immer angebetet und verschloss die Augen vor ihren Fehlern. Sogar jetzt nannte er sie eine Romantikerin. Und vielleicht war sie das auch. Aber vielleicht war es diesmal ein anderer, der ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ich glaube, du solltest Mom nach Shep Gardner fragen«, stieß ich rasch hervor.
»Shep Gardner?« Dad schien amüsiert zu sein, als hätte er über den attraktiven, wohlhabenden Shep gar nicht weiter nachgedacht. Moms Strandfreund . Der Mann, der ihre Augen zum Leuchten brachte. Der sie dazu bewog, ihren schicksten Paschmina anzulegen, weil er sie zum Grillen in seiner Prachtvilla am Strand eingeladen hatte. Doch wir alle machten uns schuldig, wenn wir die Warnzeichen bei Menschen, die wir liebten, übersahen. Außerdem hatte mein Dad nicht miterlebt, wie sich Mom und Shep an jenem Abend, an dem sie sich nach so vielen Jahren wiedergesehen hatten, auf der Veranda in die Arme gefallen waren.
»Ich glaube, der Aufenthalt hier tut Mom nicht gut«, murmelte ich und überlegte, wie ich meinem Vater beibringen sollte, dass er in trügerischem Wasser schwamm und von Haien umzingelt war. »Ich glaube, dass Southampton … Tante Kathleen und das, was mit ihr passiert, Auswirkungen auf sie hat.«
»Und was hat das mit Shep zu tun?«, fragte mein Vater ahnungslos.
»Dad! Soll ich es dir aufschreiben? Mom ist verrückt nach ihm! Sie stehen sich sehr nahe. Schon seit ihrer Jugend.«
»Ich weiß«, erwiderte Dad.
»Und das stört dich nicht? Du machst dir gar keine Sorgen?« Ich war perplex. Verwandelte sich sogar mein zuverlässiger alter Dad in einen abgestumpften, blasierten Typen?
»Wegen eines schwulen Mannes mache ich mir keine Sorgen«, sagte Dad milde und legte mir den Arm um die Schultern. »Shep ist ein lieber alter Freund deiner Mutter, das ist alles. Er ist ein echt netter Kerl. Ich glaube, du würdest ihn mögen.«
Ich musste plötzlich lachen. Aus vollem Hals. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, als Dad mir von Moms alter Freundschaft zu Shep erzählte und wie er sie als Teenager zu Partys und beim Ausgehen begleitet hatte. Das war, bevor er sein Coming-out hatte. Unfassbar! Und doch ergaben so viele lose Puzzleteilchen in meinem Kopf plötzlich ein Bild.
»Ich bin nicht ganz so hinter dem Mond, wie du glaubst«, neckte mich Dad. »Mein Schwulenradar funktioniert besser als deiner.«
»Und du und Mama, ihr werdet auch nicht zu Alkoholikern?«, fragte ich bemüht scherzhaft, während wir langsam heimwärts spazierten, Arm in Arm, mein Kopf an der Schulter meines Vaters.
»Noch nicht, Schätzchen.« Mein Vater lachte leise. »Und du? Mir war so, als hättest du am Abend der Party nach Whiskey gerochen.«
Mir fuhr der Schreck in die Glieder, doch mein Vater wirkte ganz unbesorgt. Noch immer lächelnd fragte er: »Aber ich brauche doch keine Angst zu haben, oder? Du magst doch eigentlich gar keinen Whiskey?«
»Nein. Aber wenn wir noch einen Monat länger hierbleiben würden …«
Ich alberte nur herum, aber auf dem Rückweg nistete sich eine kalte Schwere in meiner Magengrube ein, als hätte ich einen rostigen Anker verschluckt. Familienszenen von früher mit den Gesichtern meiner Verwandten spielten sich in meinem Hinterkopf ab wie alte Filme. Corinne, Tante Kathleen und Onkel Rufus erschienen mir wie Schauspieler in Rollen, die ich
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