Der Sommer der Toten
nichts anderes mehr übrig. Bis zu der Folter hatte sie nie ahnen können, welch entsetzliche Schmerzen Menschen einander antun können. Und das im Namen des Allmächtigen.
Sie hatte niemandem etwas Böses angetan. Ihr einziger Fehler war, zu oft in die Kirche gegangen zu sein. Damit zog sie den Verdacht der Inquisition auf sich. Denn wer zu oft in die Kirche geht, der versucht dadurch davon abzulenken, dass er mit dem Teufel buhlt.
Einmal ins Visier ihrer Peiniger geraten, dauerte es nicht lange, dass sie auch von den Nachbarn denunziert wurde. Sie habe eine Kuh verhext, auf dass sie nur noch schlechte Milch gebe. Und auch für die jahrelange Impotenz eines anderen Nachbarn sei sie verantwortlich gewesen, weil sie ihn mit einem bösen Kraut verhext habe.
Natürlich wusste sie von alldem nichts. Aber Stunden des zunächst gütlichen, dann peinlichen und dann hochnotpeinlichen Verhörs ließen sie an sich selbst zweifeln. In all den Qualen, die jeder Beschreibung spotteten, begann die Realität sich zu verschieben und plötzlich glaubte sie klar zu sehen, was sie Menschen mit ihrem bösen Zauber alles angetan hatte. Sie sah, dass sie nicht sie selbst war, als sie auch den Tieren auf der Weide schlechten Urin angehext hatte.
Kurz: Sie hatte die Schwelle zum Wahnsinn überschritten. Nicht enden wollende qualvolle Nächte auf dem nackten Steinboden der Kerkerzelle setzten ihren Verstand endgültig außer Betrieb. Ihre Neurochemie gaukelte ihr Stimmen vor. Stimmen, die ihr einredeten, noch viel Schlimmeres getan zu haben. Stimmen, die ihr rieten, alles sofort zu gestehen, um weitere Qualen zu vermeiden. Sie tat es, wurde dennoch weiter gefoltert, um ihr noch mehr Geständnisse herauszupressen.
Am Ende waren beide Arme, beide Beine und beide Schlüsselbeine zertrümmert. Die Schmerzen in den Beinen spürte sie schon gar nicht mehr. Auf der Streckbank kamen einige Wirbel zu Schaden, sodass sie von der Hüfte an abwärts gelähmt war. Sie konnte keinen Harn und keinen Stuhl mehr halten. Ihr Kot verdreckte offene Wunden und sorgte so für schwärende Entzündungen. Sie bekam Fieber. Ihr Blut war bereits vergiftet.
Es war ein Segen, dem herannahenden Tod entgegenzublicken. Ihr Leben würde in solch jungen Jahren enden. Aber die Qualen auch. Geradezu sehnsüchtig gierte sie nach der allumfassenden erlösenden Dunkelheit.
Sie glaubte nicht mehr an das Paradies. Sie glaubte nicht mehr an Gott. Einen Gott, der gütig sein will und es dennoch zuließ, dass in seinem Namen all diese Grausamkeiten verübt wurden, konnte es einfach nicht geben.
Sie hing in den Ketten an dem Pfahl und ließ halb bewusstlos über sich ergehen, wie das Urteil gegen sie verkündet wurde. Dann endlich setzten die Henkersknechte den Scheiterhaufen in Brand.
Die Qualen waren unvorstellbar, als die Flammen nach ihr leckten und sie bei lebendigem Leibe verbrennen sollten.
Bianca fuhr laut stöhnend hoch und bemerkte im ersten Augenblick noch nicht einmal die Schmerzen ihrer angeknacksten Rippe.
Kapitel 3
Werner
1.
Es klopfte.
„Ja?“, rief Bianca und drehte das Wasser ab.
„Kann ich reinkommen?“, fragte Anna von draußen.
„Wenn du einen Generalschlüssel hast“, rief Bianca zurück, „tu dir keinen Zwang an. Ich stehe im Moment unter der Dusche.“
Sie hörte, wie die Tür von außen geöffnet wurde.
„Wenn du willst, kann ich auch später noch mal kommen“, sagte Anna vorsichtig.
„Quatsch!“, rief Bianca. „Jetzt stell dich nicht so an! Ich bin ohnehin gleich fertig.“
Sie drehte das Wasser wieder auf und brauste sich fertig ab. Dann stieg sie aus der Dusche.
„Was gibt’s Neues?“, fragte Bianca, während sie sich trocken rubbelte.
„Nicht viel“, antwortete Anna. „Klaus ist im Laborcontainer und wertet die Proben von gestern aus. Pfarrer Schuster hat angerufen und gefragt, ob er heute Abend mal hierher kommen kann. Ich habe zugestimmt. Der arme Mann ist fertig mit den Nerven.“
„Kann ich gut verstehen“, sagte Bianca, während sie das Handtuch über den Halter hängte und anfing ihre noch nassen Haare durchzukämmen. „Wie gut kanntest du Werner?“
„So gut, wie man sich eben in solch einem Dorf kennt. Er war immer ruhig und höflich. Die Sache gestern muss ihm böse zugesetzt haben.“
„Ich glaube Pfarrer Schuster gibt sich zum Teil die Schuld an seinem Selbstmord“, sagte Bianca.
„Er tut es. Ich weiß es.“ Anna seufzte. „Da will ich mich aber auch nicht noch reinhängen. Mir wächst die
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