Der Sommer der Toten
trat ein und schloss sie wieder bedächtiger. Ohne lange Vorrede erzählte er, was am Fuß der Klippe geschehen war.
„Was glauben Sie?“, fragte er abschließend.
Bianca antwortete erst einmal nicht. Sie wollte jetzt keine moraltheologischen Grundsatzdiskussionen vom Zaun brechen. Sie sah Anna an und erkannte, dass sie um ihre Selbstbeherrschung kämpfte. Bianca ergriff ihre Hand und spürte, wie Anna die ihrige fest umklammerte. Es dauerte eine Weile, ehe Anna antwortete.
„Ich bin Werner von ganzem Herzen dankbar, dass er das getan hat“, sagte sie leise und unter Tränen.
Pfarrer Schuster sah sie lange an. Dann nickte er.
Zu diesem Thema sollte nie wieder ein Wort gewechselt werden.
Es dauerte auch nicht mehr lange, ehe Klaus dazu kam. Wenn Bianca nicht gewusst hätte, was er gerade hinter sich gebracht hatte, dann hätte sie ihn ohne Umschweife zum Arzt geschickt. Er sah einfach nur krank aus.
Pfarrer Schuster erkannte das auch. Wortlos ging er zum Schrank, nahm ein Glas und eine Flasche Whiskey heraus und goss Klaus eine äußerst großzügig bemessene Portion ein. Dann reichte er ihm das Glas.
Klaus nickte dankbar und trank in kleinen Schlucken.
Mindestens eine Stunde saßen sie zusammen und redeten kein Wort.
Bianca war die Erste, die das Schweigen brach.
„Ich wollte dich eigentlich als unbeteiligten Dritten dabei haben, der nicht an Geister und so einen Kram glaubt“, sagte Bianca an Klaus gewandt.
„Geister?“ Klaus sah sie ungläubig an.
„Du hast ja selbst mitbekommen, was passiert ist. Wenn ich dir das erzählt hätte, hättest du mir geglaubt.“
„Nee.“ Klaus schüttelte nachdrücklich mit dem Kopf. „Ich hätte geglaubt, du wärst jetzt endgültig durchgeknallt.“
„Prima“, sagte Bianca. „Ist dein Geist jetzt offen für weitere unglaubliche Geschichten?“
„Haben die damit zu tun?“
„Und wie!“
„Will ich sie hören?“
„Nein.“
Klaus seufzte.
„Sieht so aus, als ob mir das nicht erspart bleibt. Also los.“
Und sie begannen zu erzählen. Sie erzählten die ganze Geschichte. Die Passagen, die der Priester nicht weiter geben wollte, ergänzte Anna. Bianca ergänzte, was sie aus ihrer Sicht herausgefunden hatte, und abschließend klärte Anna noch die Zusammenhänge, die sie durch die Ahnenforschungen ermitteln konnte. Klaus hörte zu und unterbrach kein einziges Mal. Seine Augen wurden immer größer. Am Ende war sein Gesicht ein einziger Ausdruck ungläubigen Staunens.
„Abgefahren“, sagte er, als sie geendet hatten. „Ist das der neue Roman von Stephen King?“
„Es ist die Vorgeschichte dessen, was du heute am Fuß des Felsens gesehen hast“, erwiderte Anna kühl.
„Und das am Felsen ist die Vorgeschichte dessen, was noch kommt“, ergänzte Bianca.
„Wisst ihr was, Leute?“ Klaus stand auf und hob abwehrend die Hände. „Ich lasse euch den Laborcontainer hier und riskiere meinetwegen auch die Kündigung. Aber macht ihr, was ihr wollt. Ich nehme den nächsten Zug zurück nach Berlin.“
„Kann ich dir nicht verübeln“, sagte Bianca ruhig. „Du wärst mir schon eine große Hilfe, wenn du die Proben mitnehmen und auswerten könntest.“
„Das ist doch Wahnsinn“, sagte Klaus. „Und in dieser Geisterbahn machst du jedes Jahr Urlaub?“
„Bisher habe ich mich immer gut erholt“, sagte Bianca.
„Und dieses Jahr?“, fragte Klaus herausfordernd.
„Wohl eher nicht.“
„Komisch. Warum nur?“
„Wenn du fahren willst, dann sag mir Bescheid“, bot Bianca an. „Ich fahre dich dann mit meinem Wagen zum Bahnhof. Wenn du diese Strecke mit dem Bus zurücklegen willst, hast du eine Tagesreise vor dir.“
„Du hast wohl’n Knall“, sagte Klaus. „Ich bleibe. Wir haben ja gerade jetzt wieder gesehen, dass man dich keine fünf Minuten alleine lassen kann.“
„Ändert der immer so schnell seine Meinung?“, fragte Anna an Bianca gewandt.
„Eigentlich nicht“, entgegnete Bianca. „Nur wenn er aufgeregt ist.“
„Ist er das jetzt?“
„Ja“, antwortete Bianca grinsend. „Ein wenig.“
„Ein wenig?“ Anna gab sich erstaunt. „Und was passiert, wenn er sehr aufgeregt ist?“
„Dann kotzt er.“
„Blöde Hühner!“, schmollte Klaus.
„Ich freue mich, dass sich die Herrschaften guter Laune erfreuen“, meldete sich Pfarrer Schuster zu Wort. Er sah auf die Uhr. „Es ist kurz vor halb fünf. Ich schlage vor, wir beenden unsere Unterredung für heute und ...“
Er hielt inne, als die Glocke der Kirche
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