Der Sommer der toten Puppen
aber mir hat es gefallen. Und Mama war glücklich an dem Tag. Nur in der Kirche hat sie ein bisschen geweint, aber ich glaube, das war vor Glück, nicht weil sie traurig war.
Wie ich schon erzählt habe, wohne ich in einem kleinen Dorf, wir müssen also jeden Tag einen Bus nehmen, um zur Schule zu kommen. Man muss sehr früh aufstehen, und es ist fürchterlich kalt. Manchmal schneit es so viel, dass der Bus uns nicht abholen kann und wir keinen Unterricht haben. Aber jetzt ist Sommer, und es ist heiß. Jeden Sommer ziehen wir um, weil Mama sich in einem Ferienlager um die Küche kümmert. Mir hat es immer sehr gefallen, weil das Haus dort viel größer ist und ein Schwimmbecken hat, und es ist voller Kinder. Sie kommen in Gruppen zu zwanzig, in einem Reisebus aus Barcelona, und bleiben für zwei Wochen. Das ist ganz schön doof, denn manchmal freundest du dich mit Kindern an und weißt, dass sie in ein paar Tagen wieder fahren. Einige kommen im nächsten Jahr wieder, andere nicht. Nur ein Junge bleibt den ganzen Sommer, so wie wir. Mama hat mir gesagt, weil er keine Mutter hat und weil sein Vater viel arbeitet, deshalb verbringt er die Hälfte des Sommers im Lager. Mit seinem Onkel, der alles leitet. Und den Betreuern, die ihm helfen. Ich muss Mama auch helfen, aber nicht viel, nur ein bisschen in der Küche. Dann habe ich Zeit, schwimmen zu gehen oder bei den Spielen mitzumachen. Aber das war früher, jetzt mag ich nicht mehr. Und Mama sagt dauernd, das sei nur, weil ich nicht esse. Aber sie weiß nichts. Sie lebt in ihrer Küche und bekommt nicht mit, was draußen passiert. Sie kann nur ans Essen denken. Manchmal hasse ich sie.
Es ist der dritte Sommer, den wir hier verbringen, und ich weiß schon, dass es keinen vierten geben wird. Ich habe gesehen, wie er Inés heimlich ansieht, und keiner merkt es. Nur ich. Ich muss etwas tun. Er schaut ihr zu, wenn sie im Becken schwimmt, und sagt zu ihr Sachen wie: »Du ähnelst deiner Schwester sehr.« Das wird wohl so sein, denn alle sagen es. Aber manchmal stellen wir uns beide vor den Spiegel und betrachten uns, und dann kommen wir zu dem Schluss, dass wir uns gar nicht so ähneln. Ist aber auch egal, ich will nicht, dass sie seine neue Puppe ist. Oder zumindest will ich es nicht mit ansehen müssen.
Joana stand auf und setzte sich neben Inés. Sie dankte es ihr mit einem kleinen Lächeln und las gleich weiter.
Alles begann im vorletzten Sommer, Ende Juli, als nur noch eine Kindergruppe kam. Zwischen den einzelnen Gruppen sind wir immer ein paar Tage allein. Mit allein meine ich: Mama, Inés und ich, außerdem der Pfarrer und irgendein Betreuer. Dann haben Inés und ich das ganze Schwimmbecken für uns. Es ist, als wären wir reich und lebten in einem Haus wie in den amerikanischen Serien. Aber Inés ist ein bisschen wasserscheu, so dass ich an dem Tag allein im Becken war. Ich bin immer gerne geschwommen und konnte es gut. Kraul, Brust, Rücken ... alle Stile außer Schmetterling, das bekam ich nicht hin. Deshalb bot er mir an, es mir beizubringen. Er stellte sich an den Rand und zeigte mir, wie man die Arme und die Beine bewegt. Er sieht ziemlich gut aus und hat viel Geduld. Er ist fast nie böse, nicht einmal, wenn die Kinder ungezogen sind und nicht auf ihn hören. So machten wir es eine Weile, ich schwamm, er stand am Rand, bis ich müde wurde. Dann half er mir aus dem Wasser, auch wenn das gar nicht nötig war. Es wurde schon Abend, es war keine Sonne mehr, und er sagte, ich solle mich lieber gleich abtrocknen, um mich nicht zu erkälten. Dann stellte er sich hinter mich, legte mir ein Handtuch um und fing an, mich richtig abzurubbeln. Ich musste lachen, so sehr hat es gekitzelt. Zuerst hat er auch gelacht. Dann nicht mehr, er hat mich immer langsamer abgetrocknet und schwer geatmet, so wie man atmet, wenn man müde ist. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen, auch wenn ich schon völlig trocken war, aber irgendwie fühlte ich mich komisch. Ich war immer noch in das Handtuch gewickelt, und dabei streichelte er mich durch den Stoff. Dann schob er die Hand darunter.Erst da habe ich versucht, mich von ihm zu lösen, aber ich konnte nicht. Er sagte nichts, nur pst!, auch wenn ich gar nichts gesagt hatte. Und dann: Ich werde dir nicht weh tun. Ich war überrascht, ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass er mir weh tun könnte. Sein Finger fuhr an meinem Bein hoch, über die Innenseite des Schenkels, immer höher, wie eine Eidechse. Oben hielt er an und seufzte.
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