Der Sommer der toten Puppen
Ein paar Sekunden nur, dann war sein Finger unter dem Rand des Badeanzugs. Ich musste mich schütteln, und er hat noch heftiger geatmet und mich losgelassen.
»Mein Gott!«, rief Joana, aber Héctor bedeutete ihr zu schweigen. Leire betrachtete nur still die junge Frau, die sie in diese ungeheuerliche Geschichte hineinzog.
Ich habe es Mama nicht erzählt. Niemandem. Ich hatte das Gefühl, ich hätte etwas Böses getan, auch wenn ich nicht genau wusste, was. Und er hat auch nichts weiter gesagt. Nur: Geh dich anziehen, es ist schon spät. Es klang ein bisschen verärgert. Als hätte ich ihn aufgehalten. Am nächsten Tag kam er nicht zum Schwimmbecken. Ich sah ihn vom Wasser aus vorbeigehen und rief nach ihm, ich wollte ihm zeigen, dass ich geübt hatte und es schon besser konnte. Aber er sah mich nur ernst an und ging weiter, ohne ein Wort. Ich hatte keine Lust mehr zu schwimmen und stieg aus dem Becken. Es war früher als am Tag davor, und es war heiß. Ich legte mich aufs Handtuch und ließ mich von der Sonne trocknen. Wahrscheinlich wartete ich nur darauf, dass er wiederkam, aber er kam nicht. Sicher war er böse auf mich. Ich sagte mir, wenn er mich wieder abtrocknet, bin ich nicht noch einmal so dumm. Aber am nächsten Tag kam schon die neue Kindergruppe mit den anderen Betreuern, und er hatte keine Zeit mehrfür den Schwimmunterricht. Ich übte jeden Nachmittag, wenn die Kinder etwas unternahmen und das Becken leer war, und eines Tages sagte ich ihm, dass ich es schon richtig gut könne. Er lächelte und sagte: Dann komme ich zu dir, ich will sehen, welche Fortschritte du gemacht hast.
Er ist tatsächlich gekommen, am letzten Tag, als die Kinder wieder gefahren waren. Und er hat mich gelobt. Ich war stolz. Mama war es egal, ob ich gut schwimmen konnte oder nicht, sie hat keine Ahnung von Sport, deshalb war ich so glücklich. Als ich aus dem Wasser kam, blieb ich ruhig stehen und wartete darauf, dass er mich abtrocknete. Aber er gab mir nur das Handtuch. Und sagte, ich hätte eine Belohnung verdient, weil ich mir beim Schwimmen solche Mühe gegeben hätte. Welche Belohnung?, fragte ich. Er lächelte. Wirst schon sehen. Es soll eine Überraschung sein. Komm morgen zu der Höhle im Wald, nach dem Essen, dann gebe ich sie dir, einverstanden? Aber sag Inés nichts, sonst will sie auch eine. Das stimmte. Inés quengelt nämlich immer, wenn ich Geburtstag habe und Geschenke bekomme und sie keins. Also sagte ich ihr nichts, und am nächsten Tag schaffte ich es, zu gehen, ohne dass sie mich sah. Auch Mama habe ich nichts gesagt, sonst hätte ich Inés garantiert mitnehmen müssen.
»Du musst dir das nicht antun«, flüsterte Joana, aber Inés warf ihr nur einen harten Blick zu.
»Ich weiß. Aber ich will es. Ich bin es ihr schuldig.«
Das war im Sommer vor zwei Jahren. Jetzt gehe ich fast gar nicht mehr schwimmen. Ich habe keine Lust. Ich will nur schlafen. Aber richtig schlafen, ohne zu träumen. Ich habe alle gefragt, wie man Träume vermeidet, aber keiner konnte es mir erklären. Keiner weiß etwas von den Dingen, die wirklich wichtig sind. Mama weiß nur, wie man kocht und mich überwacht. Sie beobachtet mich jedes Mal, wenn wir uns an den Tisch setzen. Ich ertrage sie nicht. Ich will ihr Essen nicht. Wenn ich mich nach dem Essen übergebe, fühle ich mich jedes Mal gut. Vielleicht lernt sie so, mich in Ruhe zu lassen.
Die Höhle liegt etwa zwanzig Minuten vom Haus entfernt. Man muss ein gutes Stück den Hang hinauflaufen, durch den Wald, aber ich kenne den Weg genau. Jede Kindergruppe macht einen Ausflug dorthin, allein dieses Jahr war ich schon viermal da. Manchmal geht ein Betreuer vor und versteckt sich in der Höhle, um die Kleinen zu erschrecken. Ich habe mich also an dem Tag zur Siestazeit auf den Weg gemacht. Als ich hinkam, war niemand dort. Höhlen machen mir keine Angst, aber ich gehe auch nicht gern alleine hinein, also habe ich mich auf einen Stein in den Schatten gesetzt und gewartet. Ich mag den Wald. Das Licht sickert durch die Zweige und malt Bilder auf den Boden. Und es ist still, aber nicht ganz, so als wäre die Stille voller Musik. Ein leichter Wind wehte, es war angenehm nach dem Aufstieg. Ich sah auf die Uhr, auch wenn ich nicht genau wusste, wann er kommen wollte. Aber er ließ nicht auf sich warten. Etwa zehn Minuten später kam er. Er hatte seinen Rucksack dabei, und ich sagte mir, das Geschenk ist bestimmt dort drin. Er schaute sich die ganze Zeit um. Er schwitzte, wohl weil er gerannt
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