Der Sommer der toten Puppen
wir es vermieden, aber ... klar, am Ende mussten wir von Iris sprechen. Immer Iris ...«
»Was ist in dem Sommer damals passiert, Inés? Ich weiß, du warst ein kleines Mädchen, und ich verstehe, dass der Gedanke für dich schmerzhaft ist ...«
»Nein. Nicht mehr.« Sie errötete, ihre Augen glänzten tränenfeucht. »Jahrelang habe ich versucht, diesen Sommer zu vergessen, diesen Tag. Aber irgendwann ist Schluss. Da hatte Marc recht, auch wenn er einen Teil der Wahrheit nicht kannte. Tatsächlich wusste auch ich bis vor kurzem nicht alles, bis Weihnachten, als meine Mutter umgezogen ist und wir alle Sachen aus der alten Wohnung eingepackt haben. In einer Kiste lag der Teddy von Iris. Er war noch genauso kaputt, durch einen Schlitz quoll die Füllung heraus, aber dann habe ich bemerkt, dass etwas darin war.«
Sie unterbrach ihre Schilderung, öffnete den Rucksack und holte eine Mappe heraus.
»Hier«, sagte sie und wandte sich an den Inspektor. »Oder soll ich es lieber vorlesen? Meine Schwester hat es in dem Sommer geschrieben. Ich habe es bestimmt hundertmal gelesen. Zuerst habe ich es nicht bis zum Ende geschafft, aber mittlerweile kann ich. Es ist etwas lang ...«
Inés nahm ein paar Blätter und begann mit brüchiger Stimme vorzulesen.
Ich heiße Iris und bin zwölf Jahre alt. Dreizehn werde ich nicht, denn bevor der Sommer zu Ende geht, bin ich tot.
Ich weiß, was der Tod ist, oder zumindest stelle ich es mir vor. Man schläft ein und wacht nicht mehr auf. So liegtman da und schläft, aber ohne zu träumen, nehme ich an. Als ich klein war, war Papa ein paar Monate krank. Er war sehr stark, konnte große Baumstämme mit der Axt fällen. Ich habe ihm gerne zugesehen, aber ich durfte nicht näher herankommen, weil ein Splitter herausspringen und mich verletzen konnte. Während seiner Krankheit, bevor er für immer einschlief, wurden seine Arme immer dünner, als würde etwas sie von innen auffressen. Zum Schluss waren nur noch die Knochen übrig, die Rippen, die Schultern, die Ellenbogen, und dann ist er eingeschlafen. Er hatte keine Kraft mehr, um wach zu bleiben. Mir bleibt auch nicht mehr viel Kraft. Mama sagt, weil ich nicht esse, und das stimmt, aber sie glaubt, ich will so dünn sein wie die Mädchen aus den Illustrierten, und da irrt sie sich. Ich will nicht abnehmen, um hübscher zu sein. Früher vielleicht, aber das war bloß eine Dummheit. Ich will abnehmen, um zu sterben wie Papa. Außerdem habe ich keinen Hunger, nicht zu essen ist also einfach. Zumindest war es das, bevor Mama anfing, mich zu kontrollieren. Jetzt ist es viel schwerer. Ich muss so tun, als würde ich den Teller aufessen, sonst nervt sie wieder, aber ich habe meine Tricks. Manchmal behalte ich das Essen ewig im Mund und spucke es in eine Serviette. Und in letzter Zeit habe ich gelernt, dass es besser ist, alles herunterzuschlucken und sich dann zu übergeben. Wenn du dich übergibst, bist du danach rein, die ganze Schweinerei kommt raus, und du kannst ruhig atmen.
Inés unterbrach für einen Moment, und Héctor wollte ihr schon sagen, sie brauche nicht fortzufahren, doch dann atmete die junge Frau tief durch und las weiter.
Ich wohne in einem Dorf in den Pyrenäen, zusammen mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester. Inés ist acht Jahre alt. Manchmal erzähle ich ihr von Papa, und sie sagt, sie erinnert sich, aber ich glaube, sie tut nur so. Ich war acht, als er starb, und sie erst vier. Ich glaube, sie hat ihn nur ganz dünn in Erinnerung, wie ein Jesus Christus, sagt sie. Sie erinnert sich nicht an den starken Papa, der Bäume fällen und schallend lachen konnte und der dich in die Luft hob wie eine Stoffpuppe, die nichts wiegt. Damals hat Mama auch mehr gelacht. Als Papa dann für immer eingeschlafen ist, hat sie angefangen, viel zu beten. Jeden Tag. Ich habe gerne gebetet, und Mama hat darauf bestanden, dass wir zur Erstkommunion gehen, Inés und ich, beide zusammen. Es war schön, die Katechetin hat uns Geschichten aus der Bibel erzählt, und es ist mir nicht schwergefallen, die Gebete zu lernen. Nur vor den Hostien habe ich mich geekelt. Sie blieben mir am Gaumen kleben, und ich konnte sie nicht herunterschlucken. Kauen ging auch nicht, weil das eine Sünde ist. Inés mochte die Hostien gern, sie sagte, sie seien wie diese Oblaten auf dem harten Mandelnugat. Ich habe noch das Foto von der Erstkommunion. Inés und ich waren weiß gekleidet, mit einer Schleife im Haar. Fast keins der Mädchen aus der Schule war dabei,
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