Der Sommer der toten Puppen
Puppen schließen die Augen und lassen sich streicheln. Sie lassen zu, dass man ihre Hand nimmt und sie dorthin legt, wo man es ihnen sagt. Und sie öffnen den Mund und lecken mit der Zunge, auch wenn sie dabei würgen müssen. Vor allem aber erzählen die guten Puppen niemandem etwas. Sie gehorchen. Quengeln nicht. Warten wie die echten Puppen, bis ihr Besitzer sie nimmt, und spielen mit ihm, bis er keine Lust mehr hat. Schon seltsam, aber du möchtest, dass man mit dir spielt, auch wenn dir manche Spiele gar nicht gefallen. Und vor allem erträgst du es nicht, dass dein Besitzer dich vergisst. Oder dich gegen eine andere, neue Puppe tauscht. Gegen Ende des vergangenen Sommers, es war das letzte Mal, dass wir spielten, sah er mich an und sagte: Du wirst ja schon richtig groß. Und anders als die meisten Leute, die es mit einem Lächeln sagten, hatte ich den Eindruck, dass er es nicht mochte. Als ich dann in meinem Zimmer war, schaute ich mich im Spiegel an und sah, dass er recht hatte: Mein Körper veränderte sich, mir wuchsen Brüste ... nur ein bisschen, aber der rosa Bikini war mir jetzt zu klein. Da entschloss ich mich, weniger zu essen.
»Arschloch!« Das Wort war Joana herausgerutscht.
Inés sah sie an, nickte und sagte:
»Es ist bald zu Ende.«
Dieses Jahr ist alles anders gewesen, von Anfang an. Als er kam, hat er mich angesehen, als würde er mich nicht wiedererkennen. Dabei war ich so stolz: Ich hatte fast keinen Bissen gegessen und deshalb kaum zugenommen. Aber ich war größer, das war nicht zu verhindern. Und ich sah, dass er es merkte, auch wenn er nichts sagte. Ich versuchte mir den Bikini anzuziehen und weinte vor Wut, weil er nicht passte. Er erwähnte ihn nicht einmal. Er sah mich an, als gäbe es mich nicht, als hätte er nie mit mir gespielt. Und als ich ihm irgendwann sagte, wir könnten zur Höhle gehen, tat er verwundert. Als wüsste er nicht, wovon ich sprach. Ausnahmsweise war meine Mutter mal zu etwas gut, denn sie regelte alles. Sie erzählte den Betreuern, was für eine schlechte Schülerin ich geworden sei und wie sehr sie das beunruhigte, wohl um mich zu beschämen. Und er stimmte zu und sagte: Keine Sorge, wir werden ihr helfen. Ich selber werde ihr Privatunterricht geben, wann immer ich am Nachmittag Zeit habe. Die Idee gefiel mir: wir beide zusammen, in einem Zimmer. Ich fühlte mich wieder als etwas Besonderes.
Am ersten Tag wartete ich in meinem Zimmer am Schreibtisch auf ihn, in dem Zimmer, das ich mit Inés teile. Die blöde Kuh musste unbedingt alle ihre Puppen mitbringen, und während ich die Hefte und die Bücher zurechtlegte, schaute ich sie an und sagte zu ihnen: Heute bin ich dran, heute wird er mit mir spielen. Aber das hat er nicht. Er hat mir nur ein paar Matheaufgaben erklärt und dann ein paar Übungen gegeben. Dann ist er ans Fenster gegangen und dort stehen geblieben. Als er sich umdrehte, merkte ich, dass etwas mit ihm war. Seine Augen wurden trübe. Und ich sagte mir: Jetzt. Jetzt. Ich wartete darauf, dass er mit seiner rauen Stimme sprach, dass er mich mit seinen heißen Händen berührte, die ich am Anfang so eklig fand.Aber er setzte sich nur und fragte: »Wie alt ist deine Schwester jetzt?«
Wie ich ihn hasste. Ich hasste ihn aus tiefster Seele. Wenn ich ihn vorher manchmal wegen dieser Sachen hasste, die er mit mir machte, hasste ich ihn jetzt, weil er damit aufgehört hatte. Und dann sah ich, wie er sich immer mehr an Inés heranmachte. Niemand sonst hat es gemerkt, klar. Nicht einmal sie selbst. Inés kann stundenlang mit ihren Puppen spielen, ohne irgendwas mitzubekommen. Draußen spielen mag sie nicht, auch keinen Sport. Sie mag auch die anderen Kinder nicht besonders. Mama sagt immer, sie ist zu allein. In der Schule hat sie nur eine Freundin und ist sonst mit fast niemandem zusammen. Aber er hat ihr nachgeschaut, das habe ich gesehen. Und während meine Mutter mich beim Essen nicht aus den Augen ließ, hielt ich Inés fest im Blick. Ich musste etwas tun, das hatte ich beschlossen. Ich wusste, dass ich ihn in der Hand hatte, dass die Spiele der letzten Sommer böse waren. In der Schule hatte man uns davon erzählt, und alle hatten ein angewidertes Gesicht gemacht. Ich auch. Jetzt wollte ich mit dem Ganzen Schluss machen, nur wusste ich noch nicht, wie. Also ging ich eines Nachmittags, als die Betreuer und die Kinder auf einem Ausflug waren, zu dem Pfarrer, um mit ihm zu sprechen. Ich wollte ihm alles erzählen, von dem Bikini, den Spielen in der
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