Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
Vom Netzwerk:
Lehrer spielte mit dem Kaffeelöffel.
    »Aleix Rovira ist einer der kompliziertesten Schüler, die ich je gehabt habe.« Er sah, dass die Bemerkung erklärungsbedürftig war: »Sehr intelligent, gewiss, und aus Sicht der Mädchen ziemlich attraktiv. Überhaupt kein typischer Streber, er war in Sport genauso gut wie in Mathematik. Ein geborener Anführer. Was vielleicht nicht verwunderlich ist, er ist der Jüngste von fünf Geschwistern, alles Brüder, alle strikt erzogen nach dem, was man christliche Werte nennen könnte.« Er machte eine Pause. »In seinem Fall kommt allerdings eine schlimme Sache aus seiner Kindheit hinzu. Er hatte Leukämie oder etwas in der Art.«
    »Und ...?« Héctor lächelte.
    »Nun ja«, Alfonso stockte wieder, »Aleix hatte etwas Unterkühltes. Als hätte er alles schon hinter sich, als hätte er durch seine Intelligenz und die Erfahrung der Krankheit eine irgendwie ... zynische Reife erlangt. Er machte mit der Klasse, was er wollte, hatte sie in der Hand, und manche Lehrer auch. Dass er Klassenbester war, der jüngste einer legendären Dynastie an dieser Schule, dazu seine gewonnene Schlacht gegen den Krebs, es verlieh ihm eine Aura, dass er sich fast alles herausnehmen konnte.«
    »Sprechen Sie von Mobbing?«, fragte Leire.
    »So weit würde ich nicht gehen, aber etwas in der Richtung. Fiese Bemerkungen über die weniger aufgeweckten oder weniger gutaussehenden Mitschüler, nichts, was man ihm groß vorwerfen könnte. Aber die Klasse machte, was erwollte. Wenn er einen Lehrer auf dem Kieker hatte, zogen alle mit, und wenn er beschloss, ein bestimmter sei zu respektieren, folgten sie ihm. Aber bitte, das ist nur meine Meinung, für die meisten ist er einfach ein bezaubernder Junge.«
    »Aber Sie scheinen doch sehr überzeugt, Herr Esteve«, setzte Castro nach. Sie ahnte, dass da noch mehr war.
    »Hören Sie, meine Überzeugung ist das eine, ob sie auch richtig ist, etwas anderes.« Er senkte die Stimme, als wollte er ihnen ein Geheimnis anvertrauen. »Eine Schule ist eine Gerüchteküche. Irgendeine Geschichte taucht auf, macht die Runde, wird weitererzählt, Sie kennen das. Jedenfalls gab es hier mal eine Lehrerin, nicht mehr ganz jung, etwas über vierzig. Sie kam, als Aleix und Marc zusammen im ersten Oberstufenjahr waren. Aus irgendeinem Grund kamen Aleix und sie nicht miteinander aus. Insofern ungewöhnlich, als ihm sonst stets daran gelegen war, sich mit der weiblichen Lehrerschaft gutzustellen. Das Gerede fing gleich an, Gerüchte aller Art. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber vor Ende des Schuljahres ist sie gegangen.«
    »Und Sie glauben, die Gerüchte gingen von Aleix aus?«
    »Da bin ich mir ziemlich sicher. Eines Tages kam sie nicht zum Unterricht, ich habe sie vertreten. Aus Aleix’ Gesicht sprach eine fast sadistische Freude, das können Sie mir glauben.«
    »Und Marc?«
    »Nun ja, der arme Marc war sein größter Fan. Sein Vater hatte wieder geheiratet, und seine Frau konnte, soweit ich weiß, keine Kinder bekommen, sie haben dann ein chinesisches Mädchen adoptiert. Keiner hat sich richtig um Marc gekümmert, und er brauchte jemanden an seiner Seite. Und dieser Jemand war Aleix Rovira.«
    »Aber dann wurde er für ein paar Tage vom Unterricht ausgeschlossen«, sagte Héctor.
    Das war der eigentliche Grund für seinen Besuch gewesen; an Lehranstalten wie dieser, wo es von Schülern aus gutem Hause wimmelte, waren Schulverweise äußerst selten. Doch wenn er erwartet hatte, der Lehrer würde ihm Näheres erläutern, war rasch klar, dass er sich getäuscht hatte.
    »Das war im Jahr darauf, aber ich fürchte, es gehört zum privaten Teil der Schülerakte. Und der ist vertraulich. Wenn Sie mehr wissen wollen, werden Sie mit dem Direktor sprechen müssen.«
    Leire räusperte sich, sie erwartete, dass Salgado nachhakte, aber der tat es nicht.
    »Selbstverständlich. Nur eins noch, haben Sie Marc nach seiner Rückkehr aus Dublin noch einmal gesehen?«
    Die Frage behagte Alfonso Esteve, er befand sich wieder auf sicherem Terrain und antwortete rasch, als wollte er seine mangelnde Zusammenarbeit bei der vorherigen Frage wiedergutmachen.
    »Ja, und er kam mir viel ausgeglichener vor. Wir haben über seine Zukunft gesprochen. Er sagte, er wolle die Eignungsprüfung wiederholen, um eine bessere Note zu bekommen, und sich in Informationswissenschaften einschreiben. Er war sehr zuversichtlich.«
    Héctor lächelte.
    »Vielen Dank. Sehr freundlich von Ihnen.« Er stand auf, doch

Weitere Kostenlose Bücher