Der Sommer der toten Puppen
sie konzentrierte sich auf die richtige Antwort.
»Es war nicht angenehm, bestimmt nicht. Aber auch nicht«, sie suchte nach dem Wort, »dramatisch. Ich nehme an, sie sind zu korrekt, um aus der Rolle zu fallen, und die Frau ist schließlich nicht seine Mutter ... Was nicht heißen soll, dass sie ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen, wenn sie allein sind.«
Héctor sagte nichts, und Leire fühlte sich genötigt, ausführlicher zu antworten.
»Außerdem nehme ich an, dass der Glaube in solchen Fällen hilft. Ich habe die Leute immer darum beneidet. Auch wenn ich es ihnen nicht ganz abnehme.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag kam die Sprache auf Gott. Und als Héctor seiner Kollegin kurz vor dem Ziel antwortete, tat er es mit einer Erklärung, die sie nicht ganz verstand.
»Gläubige Menschen sind uns gegenüber im Vorteil. Sie haben jemanden, dem sie vertrauen können, der sie beschützt oder tröstet. Eine höhere Macht, die ihnen die Zweifel nimmt und das Verhalten vorschreibt. Wir haben nur Teufel, die wir fürchten können.«
Leire merkte, dass er mehr zu sich selbst sprach als zu ihr. Zum Glück sah sie rechter Hand die moderne Fassade des Gebäudes, ihr Ziel, und da es Sommer war, war ringsherum praktisch nichts los. Ohne Probleme fand sie an der Ecke gegenüber einen Parkplatz, im Schatten.
Héctor stieg gleich aus. Er steckte sich eine Zigarette an, ohne seiner Kollegin eine anzubieten, und rauchte gierig, den Blick auf die Schule gerichtet, die Marc Castells bis zum Jahr vor seinem Tod besucht hatte. Während er qualmte, trat sie an den Zaun, der die Grünfläche begrenzte.
Was vor ihr lag, hatte so viel mit ihrer alten Dorfschulegemein wie das Weiße Haus mit einer getünchten Baracke. Die Reichen, sagte sie sich, wohnen noch immer in einer anderen Welt. Sosehr sich die Verhältnisse auch angeglichen haben mochten, der Gebäudetrakt dort, mit angeschlossener Turnhalle und Aula, inmitten einer Parkanlage, dessen Rasen sich wie eine grüne Decke erstreckte, sah mehr nach einem Campus aus als nach einer Schule im engeren Sinne, und ebendies zog einen tiefen Graben zwischen einer ausgewählten Gruppe von Schülern, die all diese Annehmlichkeiten als das Normalste der Welt erlebten, und den übrigen, die solche Orte nur aus amerikanischen Fernsehserien kannten.
Während sie noch ihren Gedanken nachhing, hatte der Inspektor seine Kippe ausgedrückt und war durch das offene Tor getreten. Ein wenig verärgert folgte sie ihm. Sie kam sich vor, als würde sie wie ein Chauffeur behandelt, der draußen zu warten hat. Der Besuch der Schule war im Grunde bloß eine spontane Idee gewesen. Wahrscheinlich würden sie um die Uhrzeit niemanden antreffen, aber er hatte sie nicht nach ihrer Meinung gefragt. So sind sie, die Chefs, dachte sie, während sie einen Schritt hinter dem Inspektor herlief. Immerhin hatte der wenigstens einen knackigen Arsch.
Sie gingen über den breiten, gepflasterten Weg quer durch die Grünanlage zum Hauptgebäude. Wie Leire erwartet hatte, war die Tür verschlossen; doch dann öffnete sie sich mit einem metallischen Surren, nachdem Héctor auf die Klingel gedrückt hatte. Vor ihnen lagen ein weiter Flur und ein verglastes Büro, das das Schulsekretariat sein musste. Am Schalter empfing sie eine müde wirkende Frau mittleren Alters.
»Entschuldigen Sie, aber es ist schon geschlossen.« Sie deutete auf ein Schild mit den Öffnungszeiten. »Wenn Sie Informationen über die Aufnahme oder die Schule wünschen, müssen Sie morgen wiederkommen.«
»Nein, keine Informationen«, sagte Héctor und zeigte ihrseinen Dienstausweis. »Ich bin Inspektor Salgado, und das ist meine Kollegin Castro. Wir benötigen ein paar Auskünfte zu einem Schüler dieser Schule, Marc Castells.«
Die Frau blickte sie jetzt interessiert an. Ohne Zweifel war es für sie das Aufregendste seit langem.
»Sie wissen, was passiert ist?«, fuhr Héctor in dienstlichem Ton fort.
»Aber natürlich! Ich selbst habe ja dafür gesorgt, dass zu seiner Beerdigung ein Kranz geschickt wurde, im Namen der Schule.« Sie sagte es, als wäre schon die Frage eine Beleidigung gewesen. »Ein Unglück! Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Am besten sprechen Sie mit einem der Lehrer, ich weiß nur nicht, wer gerade da ist. Im Sommer haben sie keine festen Zeiten. Bis zum fünfzehnten kommen sie vormittags, für die Planung und den Papierkram, aber zur Essenszeit verschwinden fast alle.«
Im selben Moment hallten Schritte
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