Der Sommer der toten Puppen
Tisch. Er will es nicht sehen und antwortet einsilbig. Bis sie auf einmal etwas sagt, was ihn tief trifft. Es ist deutlich zu erkennen, an seiner Miene, die sich sofort verdüstert, an der Hand, die sich zur Faust schließt; an der Art, wie er rasch aufsteht, als wäre er nicht länger bereit, auch nur ein Wort zu ertragen. Sie blickt zum Fenster, denkt nach, dreht sich um, setzt an, etwas zu sagen, aber er ist schon fort. Das Blatt Papier liegt weiter auf dem Tisch, zwischen den beiden Tassen. Sie nimmt es, liest es noch einmal durch. Dann faltet sie es akkurat und steckt es wieder in die Handtasche. Sie verbeißt sich ein Lächeln, ein bitteres. Und als kostete es sie eine ungeheure Anstrengung, erhebt sich Joana Vidal von ihrem Stuhl und geht langsam auf die Tür zu.
Bei dem Wort Dachkammer denkt man an schräge Wände, Holzbalken und alte Schaukelstühle, an abgelegtes Spielzeug und staubige Truhen; an einen gemütlichen Ort, ein Versteck. Bei den Castells war es eine keimfreie Version des Begriffs: blitzblank, weiß tapeziert, perfekt aufgeräumt. Héctor wusste nicht, wie das Zimmer ausgesehen hatte, als Marc noch lebte, aber jetzt, zwei Wochen nach seinem Tod, wirkte es wie die Ausweitung des harmonischen Ambientes in der unteren Etage. Nichts war alt, nichts deplatziert, nichts persönlich. Ein heller Holztisch, leer, bündig zum Dachfenster ausgerichtet, um kein Licht zu verschenken; ein moderner Stuhl, fast wie in einem Büro; Regale voller Bücher und CDs, sanft beschienen vom Licht des Nachmittags. Ein anonymer, unauffälliger Wohnraum. An eine echte Dachkammer erinnerte lediglich eine große Kiste an der Wand vor dem Tisch.
Héctor ging zu dem einzigen Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Er schloss die Augen und versuchte sich den Hergang vorzustellen: wie das Opfer sich in den Rahmen setzt und die Beine hinaushängt, Zigarette in der Hand. Leicht angetrunken, so dass seine Reflexe nicht die gleichen sind wie sonst, in Gedanken wahrscheinlich bei dem Mädchen, das in seinem Schlafzimmer eine Etage tiefer auf ihn wartet, auch wenn er womöglich keine allzu große Lust hat, ihr ins Bett zu folgen. Vielleicht nimmt er all seinen Mut zusammen, um sie abzuweisen; oder, im Gegenteil, er atmet durch, um ihr zu geben, was sie möchte. Für ihn sind es Augenblicke des Friedens. Ein paar Minuten nur, in denen er die Welt sortiert. Und als er aufgeraucht hat, hebt er ein Bein nach innen, will sich umdrehen. Doch da macht sich der Alkohol bemerkbar, ein plötzliches Schwindelgefühl. Er kippt nach hinten über, seine Arme rudern durch die Luft, der Fuß verliert den Halt.
Fèlix Castells war in der Tür stehengeblieben und beobachtete ihn stumm. Erst als Héctor vom Fenster zurücktrat, schloss er die Tür und wandte sich an ihn.
»Sie müssen Glòria verstehen, Herr Inspektor. Für Enric und die Kleine war das alles nicht einfach.«
Héctor nickte. Wie hatte Leire vorhin gesagt? »Die Frau ist schließlich nicht seine Mutter.« So war es. Sie mochte den Tod ihres Stiefsohns beklagen, und das tat sie bestimmt, aber an erster Stelle kamen für sie ihre Tochter und ihr Mann. Wer wollte es ihr verdenken.
»Wie haben sie sich verstanden?«
»Man hätte es sich nicht besser wünschen können. Marc war in einem schwierigen Alter und oft verschlossen. Ein gesprächiger Junge war er ohnehin nie. Er verbrachte Stunden hier oben, oder in seinem Zimmer. Oder er ging inlineskaten. Glòria hatte Verständnis für ihn, und meist überließ sie es Enric, sich um seinen Sohn zu kümmern. Was kein Wunder ist, mein Bruder neigt dazu, fast alles selbst in die Hand zu nehmen.«
»Und Ihr Bruder und Marc?«
»Nun ja, Enric ist eine starke Persönlichkeit. Manche würden ihn als altmodisch bezeichnen. Aber er mochte seinen Sohn sehr, ganz sicher, und er machte sich Sorgen um ihn.« Er hielt inne, als überlegte er, wie sich die Antwort ausweiten ließe. »Familie kann heutzutage ein sehr heikles Thema sein, Herr Inspektor. Ich bin kein Nostalgiker, ich trauere den alten Zeiten nicht nach, aber man muss auch sehen, dass die Trennungen und Scheidungen ... zu einer gewissen Unausgeglichenheit führen. Bei allen Betroffenen.«
Héctor sagte nichts und ging zu der Kiste. Er ahnte, was darin war, aber dann war er doch überrascht: das Handy von Marc, sein Notebook, verschiedene Ladegeräte, ein Fotoapparat, Kabel und, etwas merkwürdig zwischen all dem technischen Gerät, ein kaputter Teddybär. Er nahm ihn und zeigte ihn Pater
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