Der Sommer der toten Puppen
anzusehen, dass er über seine weiteren Schritte nachdachte. Ein paar Sekunden später schien er eine Entscheidung getroffen zu haben, und er sagte, ohne irgendwen anzuschauen, sehr klar:
»Fèlix, meine Dame, ich würde gerne mit Herrn Inspektor Salgado sprechen. Allein. Bitte.«
12
Aleix betrachtete das Essen auf seinem Teller mit einem Gefühl der Ohnmacht, gleichwohl zwang er sich anzufangen. Langsam. Bei den Roviras wurde das Abendessen pünktlich um halb neun serviert, und sein Vater verlangte, dass alle – was so viel hieß wie: er – um diese Uhrzeit auch am Tisch saßen. Vor einigen Tagen war sein älterer Bruder aus Nicaragua zurückgekehrt, und jetzt hatten seine Eltern zumindest jemanden, mit dem sie sich während der Mahlzeit unterhalten konnten.
Er folgte schweigend ihrem Gespräch, ohne zuzuhören, und dachte daran, dass sie aus allen Wolken fallen würden, wenn sie wüssten, woher er kam und was er mitgemacht hatte. Die Vorstellung amüsierte ihn, und er musste sich beherrschen, nicht laut loszuprusten. Aber sagte nicht sein Vater genau das immer? »Eine Familie hält zusammen.« Dieses Motto hatte ihr Leben bestimmt, seit er denken konnte, und jetzt merkte er, dass dieser Satz ihn tiefer geprägt hatte, als er glaubte. Egal, was innerhalb der vier Wände passierte, nach außen mussten die Roviras als ein Heer auftreten, das vor der Welt die Reihen schließt. Vielleicht, ja, vielleicht sollte er seinen Vater genau jetzt unterbrechen und laut sagen: »Weißt du was, Papa? Ich habe keinen Hunger, weil man mich vor einer Stunde zusammengeschlagen hat. Nichts für ungut, ich hatte ein paar Gramm Koks dabei, um es zu verticken, du verstehst schon, aber dann habe ich es verloren. Besser gesagt, dieser Idiot von Marc hat es mir weggenommen und im Klo runtergespült, und jetzt brauche ich ein bisschen Kohle, damit sie mich nicht wieder verprügeln. Keine Unsummen, bloß viertausend Euro ... etwas mehr, um sicher zu sein, dasssie mir nicht das Gesicht zerschneiden. Aber keine Sorge, ich habe die Lektion gelernt, kommt nicht wieder vor. Außerdem kann der, der es mir weggenommen hat, das sowieso nicht wieder tun. Helft ihr mir? Schließlich ist die Familie, wie du immer sagst, das Wichtigste.«
Als er sich die entsetzte Miene seines Vaters vorstellte, war die Versuchung zu lachen so groß, dass er sein Glas Wasser nahm und es in einem Zug austrank. Seine Mutter schenkte ihm rasch nach, mit einem freundlichen Lächeln, das so mechanisch war wie ihre Handbewegung. Sein Vater sprach weiter, und in einem lichten Moment, den er gewiss der Wirkung des Kokains verdankte, wurde sich Aleix bewusst, dass er nicht der Einzige war, der nicht zuhörte: Seine Mutter war in Gedanken woanders, er konnte es an ihrem Blick ablesen, und sein Bruder ... wer wusste schon, was Edu dachte. Verstohlen schaute er zu ihm hin. Edu stimmte seinem Vater zu, er hing förmlich an den Lippen von Dr. Miquel Rovira, dem angesehenen Gynäkologen, überzeugten Katholiken und erbitterten Verfechter von Werten wie Familie, Ehre und Christentum.
Auf einmal war Aleix, als säße er in einem Zug, der wie verrückt beschleunigte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Seine Hand zitterte, und er musste sie zur Faust ballen, damit es aufhörte. Er spürte den tiefen Wunsch zu weinen, ein Gefühl, das er seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte, als er in einem Bett im Krankenhaus lag; diese Angst, dass die Tür aufging und der Arzt hereinkam; Angst vor den Krankenschwestern, die ihn mit einer Fröhlichkeit umgaben, die selbst ihm in seinen jungen Jahren gespielt vorkam; Angst vor der so schmerzhaften wie unvermeidlichen Behandlung. Zum Glück hatte er auf Edu zählen können. Sein Bruder sagte ihm nicht, er solle tapfer sein, und er tat auch nicht, als wäre das, was er durchmachte, nicht schrecklich; er setztesich neben ihn, jeden Abend und auch viele Nächte, las ihm Geschichten vor oder erzählte ihm etwas, oder er nahm einfach seine Hand, um ihm zu zeigen, dass er da war, dass Aleix immer auf ihn zählen konnte. Bestimmt waren auch seine Eltern während dieser langen Krankenhausmonate oft bei ihm gewesen, aber es war Edu, an den er sich erinnerte. Mit ihm hatte er ein Band geknüpft, das den Satz seines Vaters zur Gewissheit machte: Die Familie ist das Wichtigste. Er steckte die Hand in die Hosentasche und stellte fest, dass der Stick, den Gina ihm gegeben hatte, noch da war. Er seufzte erleichtert.
Der Seufzer musste lauter gewesen
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