Der Sommer der toten Puppen
Abmachung hatten sie vor einem Jahr getroffen, und es hatte fast wie ein Spiel begonnen: Aleix bekam ein bisschen Koks gratis dafür, dass er die Ware in Kreisen absetzte, zu denen Rubén keinen Zugang hatte. Aleix hatte sich einen Spaß daraus gemacht, es war eine Möglichkeit, die Regeln zu brechen, einen Schritt auf die andere Seite zu tun. Und da die Geschäfte bestens liefen, hatte Rubén ihm vor ein paar Wochen vorgeschlagen, den Absatz zu steigern, dank seiner neuen Kumpel, und Aleix hatte es sich nicht zweimal überlegt. In der Johannisnacht hatte er genügend Kokain dabei, um die halbe Stadt in Schwung zu bringen.
»Scheiße, wie oft muss ich es noch sagen? Marc war sauer auf mich und hat es ins Klo geworfen. Ich konnte nichts tun. Glaubst du, ich würde das alles mitmachen, wenn ich es verhindern könnte?«
»Und deshalb hast du ihn gestoßen?«
Die Stille spannte sich wie ein Gummi, das jeden Moment reißt.
»Was?«
Rubén wandte den Blick ab.
»Ich habe nach dir gesucht, Junge. In der Johannisnacht. Ich wusste ja, wo du warst, und als ich keine Lust mehr hatte, dir hinterherzutelefonieren, habe ich das Motorrad genommen und mich vors Haus gestellt.«
Aleix sah ihn sprachlos an.
»Es war spät, aber im Dachfenster war Licht. Ich konnte es vom Zaun aus sehen. Dein Freund saß im Fenster, hat geraucht. Ich habe dich noch mal auf dem Handy angerufen und wollte gerade gehen, als ...«
»Was?«
»Na ja, ich hätte schwören können, dass jemand ihn gestoßen hat. Er saß ganz ruhig da, und plötzlich ist er nach vorn geschossen ... Und dahinter war so etwas wie ein Schatten. Genauer wollte ich es nicht wissen. Ich habe mich aufs Motorrad gesetzt und bin abgehauen. Als du mir am nächsten Tag gesagt hast, was passiert ist, dachte ich, dass du es vielleicht warst.«
Aleix schüttelte den Kopf.
»Der ist aus dem Fenster gefallen. Und wenn du etwas anderes gesehen hast, dann weil du zugedröhnt warst. Etwa nicht?«
»War schließlich Volksfest ...«
»Erzähl lieber niemandem, dass du da warst.«
»Keine Sorge.«
»Hast du vielleicht ...?«
Rubén seufzte.
»Wenn die Säcke mitkriegen, dass ich dir was gegeben habe, bringen sie mich um.«
Rubén legte auf einer leeren CD-Hülle rasch zwei Lines. Er reichte sie Aleix, der gierig eine sniffte. Er schaute ihn verstohlen an, bevor er ihm die Hülle zurückgab.
»Zieh dir die andere auch rein«, sagte Rubén, während er sich noch eine Zigarette anzündete. »Ich muss Auto fahren. Und du brauchst sie heute.«
11
Der letzte Besuch des Tages, dachte Héctor, als der Wagen genau vor dem Haus der Castells hielt. Nur der noch, und er konnte nachhause gehen und alles vergessen. Konnte diesen absurden Auftrag ad acta legen und sich Dingen widmen, die ihm wirklich wichtig waren. Außerdem wäre Savall endlich einmal zufrieden: Er würde einen Termin mit der Mutter des Jungen vereinbaren, würde ihr sagen, dass alles ein tragischer Unfall gewesen war, und sie würden sich anderem zuwenden. Unterwegs hatte seine Begleiterin das Detail mit dem T-Shirt erwähnt und dass sie ein paarmal den Eindruck gehabt habe, Gina Martí erzähle ihnen nicht die ganze Wahrheit. Er hatte ihr beigepflichtet, auch wenn er im Stillen dachte, dass Lügen nicht dasselbe war wie einen Freund aus Sandkastenzeiten aus dem Dachfenster zu stoßen. Einem Fenster, das nun jenseits des von Kletterpflanzen überrankten Zauns zu sehen war. Héctor schaute hoch und kniff die Augen zusammen: Von dort bis zum Boden waren es gut zehn oder elf Meter. Wieso mussten Jugendliche immer so gefährliche Dummheiten machen? War es Langeweile, der besondere Kick, bloße Gedankenlosigkeit? Er schüttelte den Kopf und musste an seinen Sohn denken, der nun auch schon in der Pubertät war. Marc Castells dagegen war fast zwanzig gewesen, als er aus dem Fenster stürzte. Héctor starrte weiter hinauf und merkte, wie ihn eine plötzliche Angst überkam, die gleiche, die er schon andere Male angesichts sinnloser Tode verspürt hatte.
Eine Frau mittleren Alters und mit südamerikanischen Gesichtszügen führte sie ins Wohnzimmer. Der Kontrast zwischen der Wohnung, die sie eben besucht hatten, und diesem Haus war so groß, dass es selbst Héctor auffiel, für den Inneneinrichtung etwas so Abstraktes war wie Quantenphysik. Weiße Wände und niedrige Möbel, Bilder in warmen Tönen, zarte Bach-Klänge. Regina Ballester hatte recht deutlich gesagt, dass ihr die derzeitige Señora Castells eher fade erscheine, aber
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