Der Sommer der toten Puppen
die Atmosphäre, die sie bei sich geschaffen hatte, war reine Harmonie, Frieden. Die Art von Zuhause, wonach Menschen wie Enric Castells strebten: ruhig und schön, mit großen Fensterfronten und klar geschnittenen Räumen, nicht zu modern und nicht zu klassisch, ein Ambiente, in dem jedes Detail Geld und guten Geschmack verriet. Vor weniger als zwei Wochen war hier jemand gestorben, aber nichts deutete mehr auf diese Tragödie hin.
»Inspektor Salgado? Mein Mann hat mir gesagt, dass Sie kommen. Er muss auch gleich da sein.« Héctor begriff sofort, warum die Freundschaft von Glòria Vergés und Regina Ballester über Oberflächliches nicht hinauskam. »Ich denke«, fügte sie mit einer kleinen Unsicherheit hinzu, »wir sollten auf ihn warten.«
»Mama! Guck mal!«
Ein vier- oder fünfjähriges Mädchen verlangte nach Glòrias Aufmerksamkeit, und sie ging sofort darauf ein.
»Das ist ein Schloss!«, verkündete die Kleine und hielt ein gemaltes Bild hoch.
»Toll ... Das Schloss, wo die Prinzessin wohnt?«, fragte ihre Mutter.
Die Kleine saß an einem gelben Tischchen, betrachtete die Zeichnung und dachte über eine Antwort nach.
»Ja!«, rief sie schließlich.
»Warum malst du nicht die Prinzessin? Wie sie durch den Garten geht.« Glòria hatte sich neben sie gehockt und wandte sich von dort aus an Salgado und Castro. »Möchten Sie etwas trinken?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir lieber in die Dachkammer hinaufgehen«, sagte Salgado.
Glòria zögerte erneut; bestimmt hatte sie von ihrem Mann genaue Anweisungen erhalten, und es bereitete ihr Unbehagen, sie zu missachten. Zum Glück kam gerade jemand ins Zimmer. Salgado und Castro blickten zur Tür.
»Fèlix«, sagte Glòria so überrascht wie erleichtert. »Darf ich Ihnen den Bruder meines Mannes vorstellen? Pater Fèlix Castells.«
»Herr Inspektor.« Der Mann, sehr groß und eher korpulent, streckte ihnen die Hand entgegen. »Enric hat mich eben angerufen, ihm ist etwas dazwischengekommen, er wird sich ein wenig verspäten. Falls ich Ihnen in der Zwischenzeit behilflich sein kann, will ich es gerne tun.«
Bevor Héctor ein Wort sagen konnte, trat Glòria herbei.
»Entschuldigen Sie, aber wären Sie so gut, sich woanders zu unterhalten?« Sie warf einen Blick zu dem Kind und sprach leiser. »Für Natàlia waren diese Tage fürchterlich, sie hat schlimme Albträume gehabt.« Sie seufzte, und fast wie zur Entschuldigung fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber ich möchte ihr das Gefühl von Normalität geben. Sie soll jetzt nicht wieder daran erinnert werden.«
»Selbstverständlich.« Fèlix sah sie liebevoll an. »Wir gehen hoch, was meinen Sie?«
»Von mir aus gern«, sagte Héctor. »Dürfte meine Kollegin Castro einen Blick in Marcs Schlafzimmer werfen?« Bei der Erwähnung des Jungen sprach auch er leiser, trotzdem drehte sich das Mädchen zu ihnen um. Es war nicht zu übersehen, dass sie dem Gespräch folgte, auch wenn sie in ihrer Zeichnung versunken zu sein schien. Es musste schwer sein, einem kleinen Mädchen eine derartige Katastrophe zu erklären. Vielleicht war die Entscheidung ihrer Mutter das Beste: einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen.
Was Enric Castells dummerweise dazwischengekommen ist, sieht ihn in ebendiesem Moment mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung über den Tisch hinweg an. Es ist eine ruhige Gaststätte, vor allem im Sommer, denn die weichen Polsterstühle und dunklen Holztische vermitteln kein sonderlich luftiges Flair. Kellner in Uniform tragen eine längst aus der Mode gekommene Förmlichkeit zur Schau, ein paar ältere Herrschaften hocken am Tresen, vermutlich aus Gewohnheit. Und dann sie beide, im hinteren Teil des Lokals, als wollten sie sich vor den Blicken der übrigen Gäste schützen. Auf dem Tisch stehen zwei Kaffeegedecke mit Kännchen.
Durchs Fenster betrachtet, sehen sie aus wie ein Paar, das auf eine unvermeidliche Trennung zusteuert. Die Worte der Frau sind zwar nicht zu hören, aber aus ihren Bewegungen spricht eine gewisse Gereiztheit: Sie breitet die Arme aus und schüttelt heftig den Kopf. Ihm dagegen scheint die Szene, die sie ihm macht, gleichgültig zu sein; er sieht sie leicht spöttisch an, mit kaum verhohlener Abneigung. Doch seine steife Haltung legt nahe, dass ihn das alles nicht völlig kaltlässt. Das Ganze geht ein paar Minuten so. Die Frau beharrt, fragt, fordert, zieht ein bedrucktes Blatt Papier aus ihrer Handtasche und wirft es auf den
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