Der Sommer der toten Puppen
Griff, diese analphabetischen, völlig verwirrten Mädchen, nachdem sie sie aus ihrer extremen Armut gelockt hatten mit dem vagen Versprechen auf eine Zukunft, die nicht schlimmer sein konnte als ihre Gegenwart. Aber sie war schlimmer. Manchmal fragte sich Leire, wie sie nur so blind sein konnten. Hatten sie jemals gesehen, dass eine ihrer Vorgängerinnen als reiche Frau zurückgekehrt war und ihre Familie aus dem Elend herausholte? Nein, es war eine Flucht nach vorn, eine Verzweiflungstat, zu der viele von ihren eigenen Eltern und Ehemännern gedrängt wurden und zu der sie keine Alternative hatten. Eine Reise, die in einem stinkenden Loch endete, wo die Mädchen begriffen, dass Hoffnung etwas war, was sie sich nicht leisten konnten. Es ging nicht mehr um ein besseres Leben, sondern ums Überleben. Und den Schweinen, die sie in der Hand hatten, war jedes Mittel recht, ihnen einzubläuen, warum sie da waren und was zu ihren neuen und widerlichen Verpflichtungen gehörte.
Sie spürte, wie es in ihrer Hosentasche vibrierte, und zog ihr Privathandy heraus. Als sie sah, von wem die SMS war, hellte sich ihr Gesicht auf. Javier. Einsachtzig, dunkle Augen, nicht zu viel und nicht zu wenig Haare auf dem gebräunten Oberkörper, ein schräg tätowierter Puma genau unter den Bauchmuskeln. Und obendrein sympathisch, sagte sich Leire, während sie den kleinen weißen Briefumschlag öffnete. »Hey, bin grad aufgewacht und du bist schon weg. Warum gehst du immer ohne was zu sagen? Sehn wir uns heute Abend wieder und du machst mir morgen das frühstück? Vermiss dich nähmlich. Küsse.«
Der Typ war reizend, keine Frage, wenn auch nicht geradeein Rechtschreibexperte. Und kein Frühaufsteher, dachte sie mit einem Blick auf die Uhr. Außerdem hatte etwas an dieser Nachricht sie alarmiert, was mit Vertretern des männlichen Geschlechts zu tun hatte, die nach ein paar Nächten Erklärungen wollten und andeuteten, sie hätten es gern, dass man ihnen ihren Cola Cao ans Bett bringt. Zum Glück waren es nicht viele. Die meisten akzeptierten ihr Spiel ohne Probleme, Sex, umstandslos und ohne Fragen, was sie offen ansprach. Aber immer gab es einen wie Javier, der es nicht ganz kapierte. Sie tippte: »Heute Abend kann ich nicht. Ich rufe dich an. Übrigens, wer nämlich mit h schreibt, ist dämlich, denk dran. Bis bald!« Vorsichtshalber schaltete sie das Handy lautlos. Beim letzten Schluck Kaffee, er war schon fast kalt, begann sie zu zittern. Sie atmete tief ein, zum zweiten Mal jetzt, und dachte, dass sie es nicht weiter aufschieben konnte. Diese morgendliche Übelkeit musste eine Erklärung haben. Gleich heute gehst du in die Apotheke, verordnete sie sich, auch wenn sie im Grunde genau wusste, dass die Antwort auf ihre Fragen in einem wunderschönen Wochenende vor einem Monat lag.
Langsam erholte sie sich, und nach ein paar Minuten fühlte sie sich wieder so weit bei Kräften, dass sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Sie setzte sich an den Rechner und machte sich an die Arbeit; im selben Moment ging die Tür zum Büro von Kommissar Savall zu.
Der dritte Mann im Raum mochte denken, er verdiene sein Geld als Anwalt, aber wenn es nach Redegewandtheit ging, sah die Zukunft, die ihn erwartete, recht düster aus.
Zum vierten Mal in zehn Minuten wischte sich Damián Fernández mit demselben zerknitterten Papiertaschentuch den Schweiß ab, bevor er auf eine Frage antwortete.
»Ich habe es Ihnen schon gesagt. Ich habe Dr. Omar vorgestern Abend gesehen, gegen neun Uhr.«
»Und haben Sie ihm meinen Vorschlag mitgeteilt?«
Héctor wusste nicht, von welchem Vorschlag Savall sprach, aber er konnte es sich denken. Er warf seinem Chef einen respektvollen Blick zu, auch wenn in seinen Augen noch die Wut blitzte. Jeder Kuhhandel mit diesem Arschloch, und wenn es ihm selber den Hals rettete, perforierte ihm den Magen.
Fernández bejahte. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, als würde er ersticken.
»Wort für Wort.« Er räusperte sich. »Ich habe ihm ge-sagt ... habe gesagt, dass es keinen Grund gibt, ihn anzunehmen. Dass Sie sowieso nicht viel gegen ihn in der Hand haben.« Er musste den aufsteigenden Zorn im Gesicht des Kommissars bemerkt haben, denn er rechtfertigte sich sofort. »So ist es doch. Jetzt, wo das Mädchen tot ist, gibt es keinen Zusammenhang mehr zwischen ihm und der Sache mit dem Frauenhandel ... Sie könnten ihn nicht mal wegen Fehlbehandlung anklagen, er ist ja auch kein Arzt. Wenn sie ihn dafür einsperren, müssten
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