Der Sommer der toten Puppen
paar Minuten an der Tür stehen, ließ das Licht drinnen an, wartete darauf, dass die Katze ihre Angst überwand und auf die Terrasse sprang, aber das Tier regte sich nicht. Sie spürte, wie erschöpft sie war, und legte sich wieder hin; es war zwanzig nach vier, mit ein bisschen Glück konnte sie noch zweieinhalb Stunden schlafen. Sie langte noch einmal nach dem Handy. Zwei neue SMS von Tomás. »Komme morgen Sants, AVE 17.00. Habe so eine Lust dich zu sehen. T.« »Ah, muss dir was vorschlagen. Küsse.«
Sie legte den Kopf auf das Kissen und schloss die Augen, sie musste jetzt schlafen. Und in diesem angenehmen Moment, der dem Verlust des Bewusstseins vorangeht, dachte sie an das Lächeln von Tomás, an das Teststäbchen, an den solidarischen Sextourismus und den Milchnapf auf der Terrasse. Bis auf einmal ein unharmonisches Detail, wie ein Missklang, sie erneut weckte. Sie schoss im Bett auf, plötzlich hellwach, und versuchte sich zu erinnern. Ja, ganz sicher. Sie sah die Dachkammer, von wo der junge Marc Castells hinuntergestürzt war, sah das Fenster, die Brüstung, den Körper auf dem Boden. Und sie begriff, dass etwas nicht ins Bild passte, dass der Ablauf nicht so gewesen sein konnte, wie sie ihn rekonstruiert hatten. Etwas stimmte nicht an dieser Szene, etwas so Einfaches wie ein Aschenbecher am falschen Ort.
FREITAG
15
Das Frühstück gehörte für Ruth zu den schönsten Momenten des Lebens. Sie frühstückte in der Küche, auf einem hohen Hocker sitzend, und nahm sich Zeit. Sie mochte das Ritual, die Orangen zu pressen und das Brot zu toasten, den Duft von Kaffee und Geröstetem. Es war ein Vergnügen, das sie mit keinem ihrer Partner je hatte teilen können: Héctor bekam morgens kaum einen Bissen hinunter, und wie es schien, war Carol genauso. Und da man sie, so wie sie jede Handbewegung zelebrierte, meist nur verwundert oder ungläubig ansah, genoss sie es umso mehr, wenn sie allein war. Sie hatte sich schon gefragt, ob dieses einsame morgendliche Vergnügen nicht ein Vorzeichen war für das, was sie in der Zukunft erwartete. Was insofern ein merkwürdiges Gefühl war, als sie immer jemanden um sich gehabt hatte: ihre Eltern, ihren Mann, ihren Sohn. Und jetzt Carol ... Mit einem Stirnrunzeln musste sie daran denken, dass sie es nicht schaffte, sie anders zu nennen als bei ihrem Namen. »Geliebte« klang zu gewöhnlich, »Freundin« kam ihr noch nicht über die Lippen, und »Partnerin« schien ihr verlogen, ein alberner Euphemismus. Während sie behutsam Butter auf das heiße Brot strich und darüber eine feine Schicht selbstgemachter Pfirsichmarmelade, fragte sie sich, was Carol in Wirklichkeit für sie war. Es war dieselbe Frage, die Carol am Abend zuvor auch gestellt hatte, nach der Auseinandersetzung mit Héctor, eine Frage, auf die Ruth offenbar keine befriedigende Antwort hatte geben können, denn das Abendessen für zwei blieb unangetastet, und Carol, ihre Geliebte, ihre Freundin, ihre Partnerin oder was auch immer, war gegangen, ohne dass sie selber den kleinsten Versuch unternommen hätte, sie davonabzuhalten. Sie wusste, ein Wort hätte genügt, eine einfache Berührung, und ihre Eifersucht wäre verflogen, aber sie hatte schlicht keine Lust gehabt. Und auch wenn sie danach fast eine Stunde miteinander telefoniert hatten, dreiundfünfzig lange Minuten, um genau zu sein, die Carol darauf verwandte, sich für den plötzlichen Abschied zu entschuldigen und ihr immer wieder Verständnis und bedingungslose Liebe zu erklären, hatte sich das Gefühl der Erschöpfung nicht verflüchtigt. Im Gegenteil, die ganze Szene hatte in ihr nur eine große Lust geweckt, zu verschwinden, für ein Wochenende abzuhauen, gleich an diesem Wochenende, an einen Ort, wo sie Ruhe finden konnte; ohne Druck, ohne Rechtfertigungen, ohne Liebesversprechen. Toller Abend, sagte sich Ruth. Sie war bester Laune nachhause gekommen, voll Vorfreude auf ein paar angenehme Stunden mit Carol, und da stand sie hysterisch am Telefon und beleidigte wie eine Furie ihren Exmann. Sie hatte sie mit den Augen um eine Erklärung gebeten und es schließlich geschafft, dass sie auflegte und ihr erzählte, was diese surrealistische Szene sollte. Carol machte es kurz: »Sieh selbst. Das war in der Schachtel Alfajores, die dieser Arsch von Ex dir gestern gegeben hat.« Dann hatte sie auf die Fernbedienung gedrückt, und auf dem Gerät erschienen Bilder von Carol und ihr, aufgenommen ein paar Tage zuvor: beide an einem Nacktbadestrand in Sant
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