Der Sommer der toten Puppen
gesagt, ich habe keine Ahnung.« Héctor erzählte ihr, nun ein wenig ruhiger, wovon er schon am Abend gesprochen hatte: von der verhüllten Drohung und dass sich, wie es aussah, über ihm und womöglich auch seiner Familie etwas zusammenbraute. »Ich glaube nicht, dass etwas passiert, vielleicht wollen sie mich nur nervös machen, mir Schwierigkeiten bereiten, aber vorsichtshalber ... halt die Augen offen, ja? Wenn dir etwas seltsam vorkommt oder verdächtig, sag mir gleich Bescheid.«
»Mach ich. Aber eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass ich am Wochenende nach Sitges fahre, in die Wohnung meiner Eltern. Am Sonntagabend fahre ich dann gleich über Calafell und hole Guillermo ab.«
»Fährst du allein?« Wahrscheinlich war er nur um ihre Sicherheit besorgt, aber sie machte ihm gleich klar, dass er zu weit gegangen war.
»Das geht dich nichts an.«
»Entschuldige. Nein ... ich wollte mich nicht einmischen.«
»Schon gut.« Ruth biss sich auf die Zunge, um nicht unwirsch zu werden. »Klang nur so. Bis dann, Héctor, wir telefonieren am Montag.«
»Ich wünsch dir schöne Tage. Und, Ruth ...« Sie spürte, dass er nach den richtigen Worten suchte. »Wie gesagt, wenn dir etwas auffällt, ruf mich sofort an, ja?«
»Tschüss Héctor«. Ruth legte auf und sah, dass sie zwei Anrufe von Carol verpasst hatte. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war eine Diskussion, so dass sie nicht zurückrief und ihre Sachen packte.
Héctor verlor auch keine Zeit. Er hatte wenig und schlecht geschlafen, wie üblich, aber an diesem Morgen schlug die Müdigkeit in Hyperaktivität um. Egal, was er Ruth gesagt hatte, er machte sich Sorgen. Vor allem weil er, auch wenn er die Bedrohung spürte, nicht wusste, woher die unbestimmte Gefahr kam und was wirklich los war. Etwas sagte ihm, dass es nicht nur ihn betraf; dass die Rache, wenn es denn darum ging, sich auch auf sein Umfeld ausweiten würde. Als er am Abend zuvor mit seinem Sohn gesprochen hatte, war ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Guillermo war glücklich im Haus eines Freundes, und Héctor wollte ihm schon sagen, er solle möglichst noch ein paar Tage bleiben, aber dann hatte der Wunsch überwogen, ihn zu sehen. Die letzte Begegnung lag einen Monat zurück, dann waren der Vorfall und die Reise nach Buenos Aires dazwischengekommen. Und er vermisste ihn mehr, als er es je für möglich gehalten hätte. In gewisser Weise war die Beziehung enger geworden, je älter sein Sohn wurde. Héctor konnte nicht von sich behaupten, ein vorbildlicher Vater gewesen zu sein; die zahllosen Überstunden und sein Unvermögen, sich an Kinderspielen zu erfreuen, hatten aus ihm einen zwar einigermaßen liebevollen, aber doch abwesenden Vater gemacht. Allerdings hatte er in letzter Zeit staunend zur Kenntnis genommen, mit welcher Reife Guillermo die Veränderungen in seinem Leben annahm. Er war ein eher introvertierter, wenn auch kein scheuer Junge, der von seiner Mutter das zeichnerische Talent geerbt hatte und von seinem Vater jene ironische Art, die ihn erwachsener erscheinen ließ. Einmal hatte Héctor sich bei dem Gedanken ertappt, dass er seinen Sohn nicht nur liebte, daran bestand kein Zweifel, sondern dass der Junge ihm auch gefiel, und zwischen ihnen beiden hatte sich eine Beziehung entwickelt, die zwar keine Freundschaft war – das schien ihm absurd –, der Kameradschaft aber nahekam. Die Trennung und dasssie ganze Wochenenden allein miteinander verbringen mussten, hatte der Vater-Sohn-Beziehung nicht geschadet, im Gegenteil.
Doch am Abend zuvor hatte sich Héctor nicht nur vergewissert, dass seine Familie wohlauf war, er hatte auch eine weitere Nummer gewählt, eine, die noch aus der Zeit in seinem Telefonbuch stand, als er mit dem Fall der nigerianischen Mädchen betraut war. Er hatte einen Termin mit Álvaro Santacruz vereinbart, einem Theologen, der sich mit afrikanischen Religionen beschäftigte und an der Fakultät für Geschichte unterrichtete. Bei seinen Ermittlungen war der Name als Experte genannt worden, nur war er nicht dazu gekommen, mit ihm zu sprechen. Jetzt spürte er das dringende Bedürfnis, sich an jemanden zu wenden, der seine Vermutungen vielleicht wissenschaftlich unterfütterte. Dr. Santacruz erwartete sie, ihn und Martina Andreu, um halb elf in seinem Institutszimmer. Er hatte sich mit Andreu für kurz vorher verabredet, damit sie ihn über Neuigkeiten ins Bild setzte, falls es denn welche gab.
Was es gab, waren vor allem Fragezeichen. Eine
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