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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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fest, dass er schon auf dem Paseo Bonanova stand, ohne dass er dort etwas zu tun hätte, worauf er beschloss, ein Stück zu Fuß zu gehen.
    Schon länger hatte er diesen Teil der Stadt nicht mehr betreten, und es verwunderte ihn, wie wenig er sich verändert hatte. Keine Horden von Touristen, keine Einwanderer, abgesehen von denen, die tagsüber in den Häusern putzten. Er fragte sich, ob es in anderen Städten genauso war, ob es undurchlässige Gegenden gab, Bollwerke gegen den frischen Wind. Die Metro kam nicht bis in den höher gelegenen Teil der Stadt, die Zona Alta, ihre Bewohner fuhren, wenn, dann mit der Bahn, was für sie etwas anderes war. Ein Hauch von Snobismus, den zu überwinden auch Ruth einige Mühe gekostet hatte. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie entsetzt ihre Eltern gewesen waren, als ihre einzige Tochter das ruhige Viertel Sarrià verließ, wenige Straßen von dort entfernt, wo er sich jetzt befand, und mit einem Argentinier zusammenzog, einem Latino, erst in Gràcia und dann, o Schreck, irgendwo da unten, nahe dem Meer. Die Strände von Barcelona samt Umgebung mochten sich nach den Olympischen Spielen noch so verändert haben, für sie waren es nach wie vor viertklassige Lagen. »Die Feuchtigkeit wird euch umbringen«, war der einzige Kommentar der beiden gewesen. Außerdem wusste er genau, dass seine Schwiegermutter jedes Mal, wenn sie allein zu ihrer Tochter und ihrem Enkel fuhr, ein Taxi nahm.
    Von ihrem Talent, die Familie zu schockieren, hatte Ruth nichts eingebüßt. Als sie sich von ihm trennte und ein neues Leben mit einer anderen Frau begann, mietete sie ein Loft nicht weit von der gemeinsamen Wohnung entfernt, wo außerdem Platz für ihr Atelier war. »Dann bist du weiter in Guillermos Nähe«, so Ruths Idee. Sie räumte auch gleich mit dem Klischee von der nachtragenden Ex auf, denn sie hatte lediglich verlangt, was ihr zustand, und Héctor hatte keine Sekunde gezögert. Darin, wie in allem anderen, waren sie äußerst zivilisiert gewesen.
    Das hätte er dem Seelenklempner sagen sollen, dachte er lächelnd. »Sehen Sie, Herr Doktor, meine Frau hat mich wegen einer anderen verlassen ... Sie haben recht gehört, ja. Wieman sich da fühlt? Tja, es ist ein Tritt in die Eier. Und du kannst nur ein saudummes Gesicht machen, denn siebzehn Jahre warst du stolz darauf, wie gut es im Bett lief, stolz darauf, dass du fast ihr erster und im Prinzip einziger Mann warst, auch wenn es immer irgendeinen Knaben vorher gab, mit dem ›fast gar nichts gewesen ist, jetzt sei nicht albern‹; und sosehr sie betont, dass die Dinge sich im Laufe der Zeit geändert haben, sosehr sie dir schwört, dass sie mit dir den Orgasmus entdeckt und es an deiner Seite genossen hat, dir mit entwaffnender Offenheit erzählt, dass es ›etwas Neues ist, was ich ausprobieren muss‹, schaut man sie doch wie ein Idiot an, verstört mehr als ungläubig, denn wenn sie es sagt, muss es stimmen, und wenn es stimmt, ist ein Teil deines Lebens, ein Teil von euch beiden, vor allem aber von dir, eine Lüge gewesen. Wie Die Truman Show , Doktor, erinnern Sie sich? Dieser Typ, der glaubt, er würde sein Leben leben, aber um ihn herum sind nur Schauspieler, die ihre Rollen spielen, und die Wirklichkeit ist bloß Attrappe, eine Fiktion, die andere sich ausdenken und darstellen. So steht man dann da, Doktor, und macht ein Gesicht wie Jim Carrey.« Er musste über sich selber lachen, ohne jede Bitterkeit, während er darauf wartete, die Straße überqueren zu können. In letzter Zeit kam es nicht häufig vor, dass er sich solche Monologe ausdachte, ob für sich oder andere, und es mochte lächerlich sein, aber als Therapie hatte es immer geholfen.
    Er ging langsam die Muntaner hinunter, auf das Zentrum einer Stadt zu, die so viele Jahre sein Zuhause gewesen war. Es war ein langer Spaziergang, aber er hatte Lust, ein wenig zu laufen, die Rückkehr in seine leere Wohnung hinauszuzögern. Außerdem war etwas an den Straßen des Eixample, an ihrer schachbrettartigen Anlage und den prächtigen alten Fassaden, was ihm ein Gefühl von Frieden gab, von Wehmut auch. Mit Ruth hatte er neben vielen anderen auch dieseStraßen erkundet, mit ihr hatte er die Sehenswürdigkeiten wie auch die Kneipen besucht. Für ihn war Barcelona Ruth: schön und ohne alles Schrille, an der Oberfläche ruhig, aber mit dunklen Winkeln und jenem Hauch von hipper Eleganz, der so charmant war wie zum Verzweifeln. Beide, Ruth und die Stadt, waren sich ihrer

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