Der Sommer der toten Puppen
sehr hell, aber in ihrem Schein sah ich, dass das Zimmer fast leer war: keine Puppen in den Regalen, und Iris war nicht im Bett. Nur der Teddybär, den Iris mir in den ersten Nächten geliehen hatte, damit ich keine Angst hatte, und den ich ihr zurückgegeben hatte, als eins der Kinder sich über mich lustig machte. Er war noch da, auf dem Kopfkissen, mit einem klaffenden Schlitz im Bauch, als hätte man ihn operiert. Die grüne Füllung quoll heraus.
Ich schnappte nach Luft, bückte mich und sah nach, ob jemand unter dem Bett war, aber da war nur Staub. Jetzt war auch ich sauer auf Iris, so wie alle. Warum machte sie das? In diesem Sommer hatte ihre Mutter andauernd mit ihr geschimpft: weil sie nicht aß, weil sie patzige Antworten gab, weil sie nicht lernte, weil sie ständig ihre Schwester Inés ärgerte. Wenn sie wieder abgehauen war, trotz der Strafe, würde Onkel Fèlix sehr böse werden. Ich weiß noch, wie ich kurz daran dachte, es ihm zu erzählen, aberdas wäre nicht gut gewesen, wir waren schließlich Freunde, Iris und ich, und auch wenn sie älter war, hatte es ihr nie etwas ausgemacht, mit mir zu spielen.
Ich wandte mich zum Fenster und dachte, vielleicht war sie ja in aller Frühe in den Hof hinuntergegangen, so wie auch ich, als alle noch schliefen, mein Zimmer verlassen hatte. Es war nicht leicht, den Metallriegel vor dem Brett aufzuschieben, aber ich schaffte es. Es war schon Tag. Vor mir erhob sich der Wald, Reihen hoher Bäume, die die Berghänge hinaufkletterten. Tagsüber machte der Wald mir keine Angst, er war sogar recht schön mit seinen verschiedenen Grüntönen. Ich sah niemanden im Hof und wollte das Fenster schon wieder schließen, als ich noch einen Blick hinüber zum Schwimmbecken warf. Ich konnte nur eine Ecke erkennen, und so lehnte ich mich ein Stück hinaus, um besser sehen zu können.
Ich weiß noch genau, wie froh ich war, als ich sie sah, eine große, kindliche Freude, wie man sie bei etwas so Einfachem empfindet wie einem Eis oder dem Besuch eines Vergnügungsparks. Iris war da, im Wasser. Sie war nicht abgehauen, sie war nur schwimmen gegangen! Ich musste mich beherrschen, um nicht nach ihr zu rufen, und ich winkte, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Das war natürlich albern, denn so wie sie dort schwamm, konnte sie mich gar nicht sehen. Ich würde warten müssen, bis sie am anderen Ende des Beckens war.
Wann immer ich jetzt, Jahre später, an diesen Morgen denke und mir jedes Detail vor Augen führe, packt mich dasselbe kalte Befremden wie damals. Denn bald wurde mir klar, dass Iris sich nicht voranbewegte, dass sie ruhig auf dem Wasser lag, als würde sie Toter Mann spielen, nur andersherum. Und auf einmal war es mir egal, ob jemand mich hörte, und ich rannte hinunter zum Schwimmbecken, traute mich aber nicht, ins Wasser zu springen. Selbst mit meinen sechs Jahren wusste ich, dass Iris ertrunken war. Und dann sah ich die Puppen: kopfüber treibend, wie kleine tote Iris.
Das Bild war so mächtig, so beunruhigend, dass Héctor fast automatisch das Blog schloss. Er fingerte nach der Zigarettenschachtel und zündete sich, gegen alle Verbote, eine an. Er nahm einen tiefen Zug und stieß den Rauch langsam aus. Während das Nikotin seine Wirkung tat und er ein wenig Ruhe fand, begann sein Gehirn, dieses neue Teilchen in ein Puzzle einzusetzen, das immer unheimlicher wurde. Und mit seiner jahrelangen Berufserfahrung sagte er sich, dass er, solange er nicht genau wusste, wie Iris gestorben war, niemals verstehen würde, was mit Marc an dem Fenster passiert war, noch mit Gina in der Badewanne. Zu viele Tote, dachte er wieder. Zu viele Unfälle. Zu viele junge Leute, die ihr Leben verloren hatten.
Das Telefon unterbrach seine Überlegungen, und so verärgert wie erleichtert blickte er auf den leeren Bildschirm.
»Joana?«, antwortete er.
»Es ist schon spät, ja? Entschuldige ...«
»Nein. Ich arbeite noch.«
»Fèlix hat mich angerufen.« Sie machte eine Pause. »Er hat mir erzählt, was mit dem Mädchen passiert ist.«
»Ja?«
»Stimmt das? Hat die Kleine eine Nachricht hinterlassen, wonach sie Marc umgebracht hat?« In ihrer Stimme schwang Unglaube, aber auch Hoffnung.
Héctor zögerte, bevor er etwas sagte, und er formulierte es so vorsichtig wie möglich:
»So scheint es zumindest. Auch wenn ich mir nicht allzu sicher wäre. Es gibt ... noch viele Fragen.«
Schweigen. Als wollte Joana dieser vagen Antwort eine Richtung geben, als dächte sie darüber nach, was sie
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