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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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dem hinzufügen könnte.
    »Ich möchte heute Nacht nicht alleine sein«, sagte sie schließlich.
    Er dachte an seine feindselige Wohnung, ohne Ruth, an das reife, schöne Gesicht von Joana. Warum nicht? Zwei einsame Seelen, die sich in einer Sommernacht Gesellschaft leisten. Daran konnte nichts Schlechtes sein.
    »Ich auch nicht«, antwortete er. »Ich komme zu dir.«

SAMSTAG

23
    Im Grunde weiß Héctor genau, dass er träumt, aber er verscheucht die Vorstellung und versinkt in einer Landschaft aus kräftigen Farben, einem Kinderbild, das einen Wald darstellen soll: grüne, fast runde Kleckse, grobe blaue Schraffuren, dazwischen freundliche weiße Wattetupfen, eine gelbe Sonne, die leise lächelt. Eine naive Szenerie, gemalt mit Wachsmalstiften. Kaum tritt er jedoch auf die braunen Steine, die den Weg anzeigen, ändert sich der ganze Raum, als würde allein seine menschliche Gegenwart die Umgebung verwandeln. Die grünen Flecken werden zu hohen, dichtbelaubten Bäumen, die Wolken ziehen als zarte Fädchen dahin, und die Sonne wärmt tatsächlich. Er hört das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies und geht entschlossen voran, als wüsste er, wohin. Als er aufschaut, stellt er verwundert fest, dass die Vögel weiterhin unecht sind: zwei in der Luft hängende geschwungene Linien, in der Mitte verbunden. Das ist der Beweis, den er braucht, er muss sich an den Gedanken klammern, dass es sich um einen Traum handelt, muss weitergehen, als wäre er der Hauptdarsteller in einem Trickfilm. In dem Moment fängt der Wind an zu wehen, zuerst nur als dumpfes Brausen, doch dann schwillt es an, bis es ein grauer Sturm ist, der die falschen Vögel hinwegfegt und gnadenlos in die Zweige der Bäume fährt. Er kann kaum weitergehen, jeder Schritt ist ein Kampf gegen diese unerwarteten Wirbel, das Bild verdunkelt sich, die Blätter fliegen von den Bäumen und ziehen einen grünen Vorhang vor das Licht. Er muss weiter, kann nicht stehenbleiben, und plötzlich weiß er, warum, er muss Guillermo finden, bevor der Orkan ihn für immer fortreißt. Verdammt noch mal ... Er hat ihm gesagt, er soll inder Nähe bleiben, nicht allein in den Wald gehen, aber wie üblich hat sein Sohn nicht auf ihn gehört. Die Sorge um ihn, aber auch seine Verärgerung geben ihm neue Kraft, und so kann er vorangehen, trotz Sturm und einem Weg, der nun wie ein steiler Hang vor ihm aufragt. Er ertappt sich bei dem Gedanken, dass er ihn wird bestrafen müssen. Noch nie hat er die Hand gegen ihn erhoben, aber diesmal ist er zu weit gegangen. Er ruft seinen Namen, auch wenn er weiß, dass der Blätterwirbel seine Schreie verschluckt. Mühsam steigt er hinauf, und als der Sturm so heftig bläst, dass er sich nicht auf den Beinen halten kann, rutscht er auf Knien. Irgendwoher weiß er, dass er nur bis ganz oben gelangen muss, und alles wird anders. Schließlich kann er sich wieder aufrichten, und nach einem kurzen Schwanken geht er weiter, immer weiter hinauf. Der Wind ist nicht länger sein Feind, er ist zu seinem Verbündeten geworden, schiebt ihn, seine Füße berühren kaum noch den Boden. Als er das Ende des Weges erspäht, bereitet er sich in Gedanken auf das vor, was dahinterliegen mag. Er wünscht sich so sehr, seinen Sohn wohlbehalten wiederzusehen, aber er will auch nicht, dass sein Ärger vor Erleichterung verpufft, so wie immer. Nein, diesmal nicht. Ein letzter Windstoß hebt ihn über die Kuppe, und er bietet seine ganze Kraft auf, um nicht zu stürzen. Als er auf der anderen Seite ist, lässt der Wind nach, und die Szenerie ändert sich. Die Sonne scheint. Und tatsächlich! Er hatte recht. Dort steht er, Guillermo, auf einer Wiese, mit dem Rücken zu ihm, in aller Unschuld und fern von allem, was sein Vater auf der Suche nach ihm erlitten hat. Als er sieht, dass es seinem Sohn gut geht, muss er tief seufzen, und er gönnt sich ein paar Sekunden zum Ausruhen. Es verwundert ihn nicht, als er merkt, wie der Zorn, der ihn hergetrieben hat, langsam verraucht, mit jedem Seufzer scheint er von ihm zu gehen, sich in Luft aufzulösen. Er presst die Kiefer zusammen und spannt dieSchultern an. Ballt die Fäuste. Er will sich auf seinen Ärger konzentrieren, will ihn wiederfinden. Und festen Schrittes, zarte Grashalme niedertretend, geht er auf den Jungen zu, der reglos dasteht, wie abwesend. Diesmal wird er ihm eine Lektion erteilen, auch wenn es ihn Überwindung kostet. Er muss es tun, muss tun, was sein Vater an seiner Stelle getan hätte. Er packt ihn bei der

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