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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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Kommissariat, in seinem Dienstzimmer, das ihm so seltsam vorkam, vergaß er alles um sich herum und versank in der Erzählung von Marc.
Ich weiß noch, wie kalt der Boden war. Ich merkte es, als ich barfuß aus dem Bett stieg und rasch zur Tür lief. Ich hatte warten wollen, bis es hell wurde, weil ich mich nicht traute, nachts den großen leeren Saal zu verlassen, aber ich war schon eine Weile wach und hielt es nicht länger aus. Ich schloss ganz vorsichtig die Tür, um keinen Krach zu machen. Ich musste es ausnutzen, dass alle noch schliefen.
Ich wusste, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte, aber bevor ich mich über den langen Gang traute, blieb ich stehen und holte tief Luft. Durch die Fensterläden im Erdgeschoss drang ein schwacher Streifen Licht, doch oben im Gang war es noch dunkel. Wie ich diesen Teil des Hauses hasste! Im Grunde hasste ich den ganzen alten Kasten. Vor allem an solchen Tagen, wenn er fast menschenleer war und auf die nächste Gruppe Kinder wartete, mit denen ich dann zehn Tage verbringen musste. Zum Glück war es die letzte Gruppe, danach konnte ich wieder zurück in die Stadt, in ein Zimmer für mich allein, ein vertrautes Zimmer mit neuen Möbeln, die nachts nicht knarrten, und weißen Wänden, die einen beschützten und nicht erschreckten.
Ohne dass ich es merkte, war die Luft entwichen, und ich musste noch einmal kräftig atmen. Iris hatte es mir beigebracht: »Du musst tief einatmen und beim Laufen die Luft ausstoßen, so erstickst du die Angst.« Bei mir hatte es nie viel geholfen.
Ich versuchte weiterzugehen, dicht an dem Holzgeländer entlang, das die Kinder vor einem Sturz in die Tiefe bewahren sollte, den Blick stur geradeaus, um nicht das steife Vogelviech zu sehen, das von seinem Tischchen an der Wand aus meine Schritte zu überwachen schien. Am Tag war er nicht so furchterregend, dieser Uhu mit den Glasaugen, manchmal vergaß ich ihn sogar, aber nachts war er entsetzlich. Das Geländer knarrte, ich hatte mich wohl zu fest daran geklammert, und ich ließ gleich wieder los, ich wollte keinen Krach machen. Ich ging weiter geradeaus, folgte dem seltsamen Muster auf den kalten Fliesen, und ich erinnere mich noch genau an das raue Gefühl, sobald ich auf eine gesprungene Platte trat. Es war nicht mehr weit: Das Zimmer von Iris war das letzte, am Ende des Gangs.
Ich musste bei ihr sein, bevor die anderen aufstanden, sie würden mich sonst zurückhalten. Iris war bestraft worden, und auch wenn ich im Grunde sogar glaubte, dass es eine verdiente Strafe war, wollte ich nicht, dass ein weiterer Tag verging, ohne mit ihr zu sprechen. Als einer der Betreuer sie am Nachmittag fand, war mir kaum Zeit geblieben. Sie war abgehauen und eine ganze Nacht im Wald gewesen. Wenn ich nur daran dachte, an diesen dunklen Wald mit seinen reglosen Uhus, bekam ich eine Gänsehaut. Aber zugleich konnte ich es kaum erwarten, dass Iris mir erzählte, was sie dort gesehen hatte. Sie war vielleicht ungezogen gewesen, aber sie war mutig, und das bewunderte ich an ihr. Natürlich hatte man sie genau deshalb bestraft; ihre Schwester hatte es mir gesagt, ihre Mutter. Damit sie nicht wieder abhaut, ihnen nicht einen solchen Schrecken einjagt.
Schließlich kam ich an die Tür. Bestimmt schlief sie noch fest. Iris teilte das Zimmer mit ihrer Schwester, nicht mit den anderen Kindern, sie waren ja auch nicht im Ferienlager, sondern die Töchter der Köchin. Die Schwester schlief in dieser Nacht bei ihrer Mutter. Ich hatte gehört, wie Onkel Fèlix es sagte. Iris sollte zwei Tage eingeschlossen in ihrem Zimmer bleiben, allein, damit es ihr eine Lehre war. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass die Fenster des Zimmers zugesperrt waren. Es waren merkwürdige Fenster, anders als bei mir zuhause in Barcelona, mit einem Holzbrett hinter der Scheibe, das kein bisschen Licht hindurchließ.
»Iris«, flüsterte ich, »Iris, wach auf.« Ich hatte den Lichtschalter nicht gefunden und tappte im Dunkeln auf das Bett zu, fühlte darüber, vom Fußende an. Plötzlich strichen meine Hände über etwas Weiches, Wolliges. Ich sprang zurück und stieß gegen die Kommode, auf der etwas wackelte. Da erinnerte ich mich, dass dort eine kleine Lampe stand, die Iris sonst bis spät in der Nacht anließ, um zu lesen. Sie las zu viel, sagte ihre Mutter. Sie drohte, ihr die Bücher wegzunehmen, wenn sie nicht aufaß. Tatsächlich stand dort die Lampe, und ich folgte dem Kabel mit der Hand, bis ich den Schalter fand. Die Glühbirne war nicht

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