Der Sommer der toten Puppen
auch funktioniert.« Es war die immergleiche Leier, seit Tagen.
»Mensch, Scheiße, wir sind hier nicht in der Schule! Es geht nicht darum, einer bescheuerten Lehrerin einen Streich zu spielen. Merkst du das nicht?«
Marc rührte sich nicht von der Stelle. Zwischen ihm und den beiden anderen zeigte sich im offenen Fenster ein Stück Himmel, das immer wieder in kräftigen Feuerfarben leuchtete.
»Nein, merke ich nicht.«
Aleix seufzte.
»Das sagst du jetzt. In ein paar Tagen wirst du uns dankbar sein.«
»Ach ja? Ich dachte, du müsstest mir dankbar sein. Du schuldest mir etwas! Das weißt du.«
»Mensch, ich tue dir einen Gefallen. Du willst es einfach nicht kapieren, aber so ist es.«
Marc schien zu zögern. Er senkte den Kopf, als wären ihm die Argumente ausgegangen, als wäre er das Diskutieren leid. Gina hatte geschwiegen, und jetzt schien ihr der Augenblick gekommen, einen Schritt auf Marc zuzugehen.
»Aleix hat recht. Es lohnt sich nicht ...«
»Dann verpiss dich!« Die Antwort erschreckte sie wie eben der Böller. »Ich verstehe nicht, warum ihr euch solche Sorgen macht. Ihr müsst nichts weiter tun. Gib mir den Stick, und ich erledige den Rest.«
Gina sah zu Aleix. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und trank ihr Glas so gierig aus, dass sie sich fast verschluckte.
»Es gibt keinen Stick, Marc. Und damit hat sich’s«, sagte Aleix.
Marc schaute ungläubig zu Gina. Doch als die nur den Kopf senkte und nicht widersprach, explodierte er:
»Ein Arschloch bist du! Ein echtes Arschloch. Ich hatte alles so weit!« Und mit leiserer Stimme: »Merkt ihr gar nicht, wie wichtig das für mich ist? Ich dachte, wir sind Freunde!«
»Das sind wir auch, Marc. Ebendrum«, betonte Aleix.
»Was du nicht sagst, toller Gefallen! Ich könnte dir auch einen tun.« Marcs Stimme klang jetzt anders, säuerlich, als käme sie aus dem Magen. »Dich nämlich von dieser Scheiße befreien, die dich verblödet. Oder glaubst du, wir hätten es nicht gemerkt?«
Aleix verstand nicht gleich, was er meinte. Und noch bevor er etwas sagen konnte, stürzte Marc sich auf seinen Rucksack.
»Hey, was tust du da?«
»Ich tue es für dich, Aleix. Einen Gefallen.« Er nahm die Tütchen heraus, sorgfältig präpariert mit der Menge, die Aleix üblicherweise verkaufte, und rannte mit triumphalem Lächeln zur Tür.
Aleix sprang hinterher, aber Marc stieß ihn beiseite und lief die Treppe hinunter zu seinem Schlafzimmer. Gina sah verdutzt, wie Aleix ihm folgte, ihn auf der Treppe am T-Shirt packte und herumriss. Beim ersten Schlag schrie sie, ein Schlag genau auf den Mund. Die beiden Freunde standen plötzlich ruhig da. Marc spürte, dass seine Lippe blutete, strich mit der Hand über die Wunde und wischte sie sich am T-Shirt ab.
»Mensch, tut mir leid«, sagte Aleix. »Ich wollte dich nicht schlagen ... Hey, komm, lassen wir das.«
Dann blieb ihm die Luft weg, Marc hatte ihm das Knie zwischen die Beine gestoßen. Er krümmte sich und presste die Augen zusammen, während tausend kleine Feuerwerke in seinem Kopf explodierten. Als er die Augen wieder aufschlug, war Marc verschwunden. Er hörte nur die Spülung im Badezimmer. Ein so anmaßender wie endgültiger Schwall.
Arschloch, dachte er, aber als er etwas sagen wollte, wurde der Schmerz zwischen den Beinen unerträglich, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu Boden zu sinken.
Er hörte die Haustür und nahm an, dass seine Eltern und sein Bruder gegangen waren. Das Haus jetzt für sich zu haben war ein erleichterndes Gefühl, doch es hielt nicht lange an, denn umso deutlicher kam ihm zu Bewusstsein, dass von jenem Treffen dreier Freunde, die sich am Ende gestritten hatten, zwei tot waren. Über den Tod hatte Aleix noch nie länger nachgedacht. Wozu auch. Manchmal erinnerte er sich an die langen Monate seiner Krankheit und fragte sich, ob er,während er im Krankenhausbett lag und all die Torturen ertrug, wohl Angst gehabt hatte zu sterben, und die Antwort war immer nein. Erst später, im Laufe der Jahre, war ihm wirklich bewusst geworden, dass andere die Krankheit nicht überlebt hatten. Und er hatte sich unglaublich stark gefühlt, als hätte das Leben ihn bereits auf die Probe gestellt, als hätte er allein mit seiner Kraft gesiegt. Die Schwachen starben, er nicht. Er hatte bewiesen, dass er Mut hatte. Edu hatte es ihm immer wieder gesagt: Du bist so tapfer, halte durch, es wird schon, bald ist es vorbei.
Er stand auf, hatte aber keine Lust, sich zu duschen.
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