Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
Vom Netzwerk:
hatten.«
    »War es eins der Mädchen unter Ihrer Aufsicht?« Er wusste die Antwort, aber er brauchte mehr Information, wollte zu Marc kommen, dem sechsjährigen Jungen, dem dieses makabre Bild vor Augen stand.
    »Nein. Ihre Mutter war die Köchin, sie war verwitwet. Sie ist mit uns zusammen in das Haus gezogen.«
    »Mit uns?«
    »Den Betreuern, den Kindern, mit mir. Die Kinder kamen in Gruppen und blieben jeweils zehn Tage.«
    »Aber Marc blieb den ganzen Sommer?«
    »Ja. Mein Bruder hat immer viel gearbeitet. Die Sommer waren ein Problem, also habe ich ihn mitgenommen, ja.« Er hob die Hände vom Tisch, wurde leicht ungeduldig. »Ich verstehe immer noch nicht ...«
    »Am Ende werde ich Ihnen alles erklären, das verspreche ich. Erzählen Sie bitte weiter.«
    Héctor sagte sich, dass er es mit einem Menschen zu tun hatte, der eher das Zuhören gewohnt war. Er hielt dem Blick des Priesters stand, ohne zu blinzeln.
    »Wie ist Iris Alonso genau gestorben?«, insistierte er.
    »Sie ist ertrunken.«
    »Ich weiß. War sie allein? Hatte sie einen Magenkrampf? Ist sie mit dem Kopf an den Rand geschlagen?«
    Schweigen. Vielleicht war Fèlix Castells entschlossen, sich nicht drängen zu lassen; vielleicht sortierte er nur seine Erinnerungen.
    »Das ist schon viele Jahre her, Herr Inspektor. Nein ...«
    »Sind viele Mädchen in Ihrer Obhut gestorben?«
    »Nein! Natürlich nicht!«
    »Dann erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich nicht verstehe, wie Sie das Mädchen haben vergessen können.«
    Die Antwort kam aus tiefster Seele.
    »Ich habe sie nicht vergessen, Herr Inspektor. Glauben Sie mir. Lange Zeit habe ich an nichts anderes gedacht. Ich habe sie schließlich aus dem Wasser gezogen, habe Mund-zu-Mund-Beatmung versucht, Wiederbelebung, alles ... Aber es war zu spät.«
    »Was ist denn passiert?« Héctor schlug einen sanfteren Ton an, vielleicht weil er den Schmerz in seinem Gesicht sah.
    »Iris war ein seltsames Mädchen.« Sein Blick schweifte zueinem anderen Ort, jenseits von Héctor, jenseits des Cafés, der Straße, der Stadt. »Vielleicht war sie auch nur in einer besonders schwierigen Phase. Ich weiß es nicht. Junge Menschen verstehe ich schon lange nicht mehr.«
    Der Priester deutete ein trauriges Lächeln an und sprach weiter, ohne dass Héctor ihn drängen musste.
    »Sie war zwölf Jahre alt, wenn ich mich recht erinnere. Schon richtig in der Pubertät. In diesem Sommer wusste ihre Mutter nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. In den Jahren davor war sie ein glückliches Mädchen gewesen, war integriert, hat mit den anderen Kindern gespielt. Sie hat sogar auf Marc aufgepasst. Aber in dem Sommer gab es nur Ärger. Und wenn es ans Essen ging ...« Er seufzte. »Irgendwann habe ich ihre Mutter beiseite genommen und sie gebeten, ein bisschen loszulassen.«
    »Iris hat nicht gegessen?«
    »Laut ihrer Mutter nicht, und ehrlich gesagt, sie war ein Strich in der Landschaft. Zwei Tage vor ihrem Tod ist sie verschwunden. Es war schrecklich. Wir haben sie überall gesucht, die ganze Nacht sind wir durch den Wald gezogen. Die Leute aus dem Dorf haben uns geholfen. Glauben Sie mir, ich habe alle Welt in Bewegung gesetzt, um sie unversehrt zu finden. Dann haben wir sie tatsächlich gefunden, in einer Höhle im Wald. Wir hatten immer Ausflüge dorthin gemacht.«
    »Ging es ihr gut?«
    »Ja. Sie sah uns völlig ungerührt an und sagte, sie wolle nicht zurück. Ich muss gestehen, dass ich in dem Moment wütend geworden bin. Sehr wütend. Wir haben sie nachhause gebracht. Aber denken Sie nicht, sie wäre auf dem Weg gehorsamer gewesen, hätte begriffen, welchen Schrecken sie uns eingejagt hat. Sie war weiter gleichgültig, unverschämt auch. Und ich hatte die Nase voll, Herr Inspektor. Ich sagte zu ihr, sie solle auf ihr Zimmer gehen und dort bleiben, dassei die Strafe. Hätte es einen Schlüssel gegeben, ich hätte sie eingesperrt. Und auch wenn Sie mir nicht glauben, in all den Stunden, die wir sie gesucht haben, habe ich gebetet, ihr möge nichts Schlimmes passiert sein.« Er machte eine Pause. »Sie hat sich sogar geweigert, sich bei ihrer Mutter zu entschuldigen ... Die arme Frau war fix und fertig.«
    »Niemand ist zu ihr gegangen?«
    »Ihre Mutter hat versucht, mit ihr zu sprechen. Aber dann haben sie wieder gestritten. Das war am Abend vor ihrem Tod.«
    Was der Mann erzählte, stimmte in den wesentlichen Punkten mit Marcs Blogeintrag überein. Fehlte nur das Ende, und Héctor hoffte, der Priester würde ein wenig Licht

Weitere Kostenlose Bücher