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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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oder Liebe. Auch ging man nicht einfach so fort und durchschnitt die Wurzeln auf so schnelle und scharfe und hoffärtige Weise. Das rächt sich.
    »Papa, David wollte etwas werden. Auf seine Art, zeitgemäß.«
    »Zeit«, stieß Ben hervor. »Zeit ist das einzige, was uns blieb.«
    Er trank sein Glas leer.
    »Aggie hat dein Zimmer oben hergerichtet. Ich schlafe auf der Couch im vorderen Zimmer. Da kann ich Mama in der Nacht hören.«
    »Ruf mich, wenn sie wach werden sollte. Ich wärme ihr die Suppe auf.«
    »Mach ich.«
    »Brauche ich oben eine Lampe?«
    »Nein, für dich habe ich die Sicherung dringelassen. Für die Beleuchtung im Oberstock.«
    »Warum …?«
    »Ich sagte schon«, antwortete er und schnitt ihre Frage ab, »wenn man alt wird, hat man es gern, wenn alles so wie früher ist. Das ist doch nicht schlimm, oder?«

 
VII
     
     
    Jener winzige Teil ihres Gehirns, der als Wächter diente, als Beobachter der wachen Welt und Beschützer des Schlafes, versuchte ihr etwas mitzuteilen.
    Der Schlaf war bald gekommen, wenn auch ein wenig ungewöhnlich. Katie war Alkohol nicht gewöhnt, und der Apfelschnaps hatte seine Wirkung getan. Gefühle und Wahrnehmungen vermengten sich in ihrem Bewußtsein, verflossen ineinander, zogen sie mit sich fort.
    Sie hörte etwas.
    Bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog, hatte sie noch nach ihrer Mutter gesehen, ihr Gesicht berührt, ihre Hand gehalten. Wenn Doc Bates nun mit dem Beruhigungsmittel einen Fehler gemacht hatte … Im Oberstock funktionierte das Licht, wie ihr Vater gesagt hatte. Ihr Zimmer sah so aus, wie sie es in Erinnerung hatte: der geblümte Bettüberwurf, dazu passende Gardinen. Der alte Frisiertisch aus glänzendem hellem Mahagoni in einem Stil, der bereits in ihrer Kindheit unmodern war. Ein Sekretär. Eine alte Spielzeugkiste, aus der Puppen und Stofftiere lugten, die Katie ausdruckslos entgegensahen, als hätte sie sie durch ihre Flucht nach Minneapolis und in die Ehe gekränkt.
    Sie warf einen Blick in die anderen Räume. Ein Zimmer stand leer und ließ ihre Schritte hohl widerhallen, das zweite diente als Abstellraum für alte Möbel und das dritte, das Gästezimmer, war aufgeräumt, aber verstaubt. Katie versuchte sich zu erinnern, ob je ein Gast darin gewohnt hatte. Auf dem Gang stand eine alte Uhr, und einem Impuls folgend stellte sie die Zeiger richtig ein und zog das Uhrwerk mit einem Schlüssel auf, der an einem Haken daneben hing. Das Pendel begann zu schwingen, das stetige tiefe Ticktack setzte ein, jenes rhythmische und beständige Geräusch, dem sie gelauscht hatte in schlaflosen Nächten jener langen Kinderjahre. Es war das Geräusch, das ihr schließlich den Schlaf gebracht hatte, einem kleinen Mädchen, das seinen Papa so liebhatte. Wenn sie oben allein war, war jenes Geräusch, die Zeit, ihre einzige Gefährtin. Sie hörte etwas rascheln, leise und weit entfernt.
    Schon im Einschlafen dachte sie an David und an ihren Vater, auch an Mama, die als einzige im Dorf, mit Ausnahme von Aggie, ihrer Ehe den Segen gegeben hatte.
    »Er ist ein guter Junge«, hatte Katrin gesagt. »Ihr sollt tun, was ihr wollt, auch von hier fortgehen, wenn euch danach ist. Niemand sonst kann euer Leben leben, und hier in St. Alazara ändert sich nichts. Seht zu, daß ihr hier wegkommt. Du sollst die Kinder bekommen, die ich nicht bekommen konnte. Du kriegst diese Kinder, und dann wird auch dein Papa seine Meinung ändern.«
    Aber bis jetzt waren keine Kinder gekommen. Zuerst hatten sie es gar nicht versucht, weil David noch mitten im Studium steckte; aber später hatte es nicht geklappt. Monat für Monat verging. Nichts. Sie bekam es mit der Angst zu tun, daß die Geschichte sich wiederholte. In ihr wuchsen sogar wilde irrationale Ängste, daß »Vergeltung« – einer der Lieblingsbegriffe Reverend Mauslochers – tatsächlich existierte und gleich der Schwerkraft eigenen Naturgesetzen gehorchte.
    Auch fuhren sie und David nie in den Norden. Der Bannfluch ihres Vaters drohte unverändert. Du kommst nie mehr heim!
    Schließlich hatten David und sie sich vor wenigen Monaten den üblichen medizinischen Tests unterzogen. Alles in Ordnung, versicherten die Ärzte. Nichts jedenfalls, was man mit ein bißchen methodischer Planung nicht ins Lot bringen könnte. Und die Ärzte hatten Berechnungen angestellt. Der zweiundzwanzigste Juni, so hatte es schließlich geheißen, wäre die absolut optimale Zeit. Wenn es zu diesem Zeitpunkt nicht klappt, wenn es zu ähnlichen Zeiten

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