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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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das nicht die kleine Katie ist!« rief er aus. Laut und freundlich.
    So freundlich war er noch nie zu ihr gewesen, aber schließlich gab er sich immer recht freundlich, wenn man für ihn keine Bedrohung darstellte und nichts besaß, was er einem aus der Nase ziehen wollte.
    Er stand am Fuße der Verandatreppe und sah zu ihr hoch, die Hände in den Overalltaschen. Er lächelte.
    »Glücklich verheiratet, hm? Kinder?«
    »Nein«, antwortete Katie ein wenig nervös. Hier im Dorf blieb das immer die allererste Frage.
    »Die kommen schon noch. Keine Bange. Und dein Mann? Kommt er aus der Gegend? Kann mich nicht mehr erinnern.«
    Otto wußte es ganz genau.
    »David Ellenwood«, sagte Katie, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Jetzt konnte er nicken und sagen: »Ach ja, jetzt weiß ich, Ellenwood.«
    Otto sah sich um.
    »Er kommt heute abend. Aus Minneapolis«, erklärte sie.
    Otto nickte wissend. Er kannte Minneapolis vom Hörensagen. Es lag da irgendwo im Süden des Bundesstaates. »Ja, die Ellenwoods«, gab er sich der Erinnerung hin. »Lebten die nicht da irgendwo außerhalb, am Mississippi? Hatten kein eigenes Land?«
    Er schüttelte den Kopf. »Sehr schlecht. Ohne Land kein Leben. Wenn man etwas sein will, muß man Land haben. Seine Eltern sind gestorben, wie? Aber jetzt sag mal, wann bist du nach Hause gekommen?«
    Sie sagte es ihm und berichtete noch, daß Mama wieder da wäre, aber das wußte er bereits. Im Dorf machten Neuigkeiten schnell die Runde.
    »Wie schön, daß du kommen konntest – um zu helfen. Sicher ist dein Papa sehr stolz«, setzte er leiser hinzu und blinzelte.
    Das Blinzeln sollte ihr verraten, daß er alles über sie und David und Papa wußte, und alles von ihren Schwierigkeiten. Obgleich er es nicht laut sagen konnte, denn das wäre nicht gutnachbarlich gewesen – wollte er ihr zu verstehen geben, daß er auf ihrer Seite stand.
    »Übrigens«, fuhr er fort und wollte zur Sache kommen, nachdem die ländlichen Einleitungsförmlichkeiten erledigt waren, »ist dein Pa heute zufällig da?«
    Papas Anwesenheit war nicht zu übersehen. Sein alter Wagen parkte an der gewohnten Stelle unter dem ausladenden Ahornbaum neben der Scheune. Aber wenn Otto etwas »bereden« wollte, dann ließ er den formellen Teil komplett abspulen, von A bis Z.
    Katies Vater saß in der Küche beim Frühstück und hatte jedes Wort mitangehört. Alle hatten Ottos Ankunft mitbekommen, bis auf Mama, die noch immer schlief. Ottos Nahen war kaum zu überhören, weil er fast überallhin – nur nicht zur Kirche – auf seinem hellgrünen großrädrigen Traktor fuhr, einem Traktor, der anders klang als alle anderen Traktoren, und der schon meilenweit zu hören war. Jetzt stand er in Ben Jaspers Hof und knatterte müßig vor sich hin. Dahinter ein leerer Heuwagen, der sich unter dem Gewicht von Ottos Riesensohn Butch schief nach einer Seite neigte. Butch starrte verträumt ins Nichts, wobei sein Kopf im Takt des Motors rhythmisch auf und nieder hüpfte.
    »Eben sagte ich Katie, wie schön es ist, daß sie wieder da ist«, erklärte Otto, als Ben aus dem Haus trat und sich auf die Stufen setzte. Todernst. Beim Geschäft gab es nichts zu lachen, und die dörflichen Gepflogenheiten verlangten, daß Männer »Geschäfte« außerhalb des Hauses besprachen, oder aber, wenn es kalt und feucht war, in der Scheune.
    Ben brummte zustimmend.
    Die zwei Männer teilten sich den letzten Priem von Ottos Kautabak. Otto faltete das Stückchen Cellophan zusammen und steckte es in die Tasche.
    »Nur nichts wegwerfen«, erklärte er. »Sicher habe ich Katie noch nie von meinem ersten Tag hier im Dorf erzählt?«
    Nein, bloß an die hundert Male, dachte sich Katie. Aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
    »Nun ja, ich war damals eine Art wandernder Tagelöhner. War viel herumgekommen, arbeitete oben in Dakota bei der Ernte, als ich hörte, daß viele Farmer hier im Norden von Minnesota Hilfskräfte suchten. Ich ließ Frau und Kind stehen« – er deutete mit dem Daumen auf Butch – »und machte mich auf nach St. Cloud. Wir kamen auf dem Güterzug, und ich hatte keinen Cent mehr in der Tasche. So komme ich hier raus nach St. Alazara. Die ganzen dreißig Meilen von der Stadt zu Fuß. Da höre ich, dein Pa hätte ein großes Anwesen, dreihundert Morgen …«
    Papa saß auf der Treppe, den Kopf gesenkt, kauend, und dachte an verlorenes Land und verlorene Zeit.
    »… und ich schaffte es gar nicht an einem Tag. Mußte in den Wäldern schlafen, ehe ich ankam.

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