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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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Sie drückte sie beiseite und zwängte sich ins Innere. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnten. Was sie dann sah, erregte Staunen und Ratlosigkeit zugleich. Vor ihr lag eine Sammlung ländlicher Arbeitsgeräte aus vergangenen Tagen, fünfzig Jahre alt etwa, vielleicht auch älter. Als sie vor drei Jahren von hier fort ging, hatten sich diese Geräte in verfallenem und unbrauchbarem Zustand befunden. Jetzt aber war alles anders. Hier sah es beinahe aus wie in einem Museum. Alte Pflugscharen schimmerten, geschmiert und poliert. Sämtliche Zähne der alten Egge waren ausgebessert, und selbst das Holz der Maschine glänzte. Alles war liebevoll repariert worden. Und erst die alten Pferdegeschirre! Da hingen sie an Nägeln und Balken, gereinigt, mit schimmernden Schnallen und Metallteilen. Waren diese Ausbesserungsarbeiten Papas Hobby? Warum hatte er ihr nichts davon gesagt? Nun ja, zur Mitteilsamkeit hatte er noch nie geneigt.
    Aber noch war nicht alles vollendet. Der alte Studebaker, Papas erster Wagen, stand, abgestützt auf vier Ziegelstapeln, am anderen Ende des Schuppens. Und da, knapp neben ihr, ein uralter kaputter Vogelkäfig, der Inbegriff alten Plunders. Ein Käfig? Woher der wohl stammen mochte? Katie zerbrach sich nicht weiter den Kopf. Die ganze Sache schien auch so verwirrend genug. Sie tat einen Schritt durch die Öffnung zwischen den Brettern und stand wieder draußen in der blendenden Junisonne, und da sah sie plötzlich, einen flüchtigen transzendenten Augenblick lang, etwas, das eigentlich nicht hätte da sein dürfen.
    Statt der Bäume des Windschutzes sah sie vor sich eine Bergkette, grüne Berge, mit schneeigen zackigen Gipfeln, an deren Flanke sich – es war nicht klar zu sehen, das Bild kam und ging sehr schnell – ein Dorf schmiegte, Häuser mit steilen Dächern und eine sonderbar eckige Kirche. Und dann war das Bild weg. Katie lehnte schwer atmend am Schuppen. Die Knie wollten nachgeben, in ihrem Kopf wirbelten Kreise. Sie hatte für das Gesehene keine Erklärung, und doch wußte sie, daß es dagewesen, daß es wirklich war. Vielleicht konnte sie mit Aggie darüber reden.
    So stand sie unter den Bäumen und suchte nach einer Erklärung. Es fand sich keine. In einiger Entfernung hinter der Scheune hörte sie das leise Tuckern des Traktors. Vielleicht werde ich auch so wie Butch, dachte sie. Armer Butch. Sie wollte rübergehen und ihn begrüßen. Es war das mindeste, was sie tun mußte.
    Wie alle Männer in der Gemeinde hatte auch Otto Ronsky sich einen Sohn gewünscht, der ihm helfen sollte, das Land zu bearbeiten – und mehr davon zu erwerben –, und er hatte Butch bekommen. Während der ersten drei oder vier Lebensjahre seines Sohnes war Otto der glücklichste Mensch des Dorfes, ja der ganzen Gegend gewesen. Butch war ein strammer, gescheiter Junge, der zu einem großen, gescheiten, kräftigen, fleißigen und wohlhabenden Ronsky-Sproß heranwachsen würde. Aber eines Tages, Butch war dem Kleinkindalter kaum entwachsen, lud Otto gerade Stroh von einem Wagen ab. Butch spielte in sicherer Entfernung auf dem Boden. Otto war mit der Arbeit fertig geworden und schleuderte die Gabel, mit der er gearbeitet hatte, Zinken voran, in die weiche Erde des Hofes. Das hatte er schon tausende Male so gemacht, ein völlig ungefährlicher Vorgang. Denn wenn die Gabelzinken sich in die Erde bohren, kann sich niemand daran verletzen. Aber dieses eine schicksalsschwere Mal streifte eine der vier scharfen Metallzinken einen Stein, die Gabel wurde wieder hochgeschleudert, vollführte eine Spirale, und Otto mußte entsetzt mitansehen, wie die Gabel durch die Luft wirbelte und dann wie ein wütender Speer herabschoß, Zinken voran. Zwei Zinken bohrten sich in die Schädelseite des kleinen Butch und drangen tief in sein Gehirn.
    Der »kleine« Butch Ronsky war inzwischen zu einem schwachsinnigen Riesenmenschen herangewachsen – oder zumindest zu etwas Menschenähnlichem –, der einen Heuballen nach dem anderen aus Papas Scheune gabelte. Man hatte ihn Jahre hindurch zur Dorfschule geschickt. Katie hatte mit ihm in der Klasse gesessen – aber es war zwecklos. Ein aufgegebenes Kind, auf das die anderen mit den Fingern zeigten, dem sie Dreck, Schneebälle und Steine nachwarfen, und das nicht wußte, wann es zur Toilette mußte. Ein hellhaariges, helläugiges Gebilde aus Fleisch und Muskeln, mit einer eingedrückten kahlen Stelle am unförmigen Kopf.
    Katie stand neben dem Wagen und sah

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