Der Sommer der Toten
dem Pfarrhaus neben der Kirche über die Dorfwiese, ein großer Mann mit rotem Gesicht, schon älter, aber noch immer kräftig, entschlossen, voller Pläne.
Und fanatisch, dachte Katie, als sie an die seltsamen wortreichen Predigten dachte, die sie in ihrer Jugend so oft zu hören bekommen hatte, Predigten, in denen seine Manie für den Jahresablauf zum Ausdruck kam, für die Wiedergeburt der Erde. Seit sie sich zurückerinnern konnte, hatte das Dorf in ihm den Führer gesehen, der für alle Probleme eine Lösung parat hatte. Sogar ihr Vater Ben Jasper, den die Dorfbewohner über alle anderen stellten, ihn bewunderten und respektierten, auch er sah zu dem starrsinnigen Prediger auf, trat in seiner Gegenwart zur Seite und beeilte sich, seinen Wünschen nachzukommen. Warum auch nicht? Der Geistliche segnete am Tag der Sommersonnenwende das Land, damit die Ernte gut ausfiel. Er betete für sie alle, erflehte Segnungen oder versprach ihnen Fürbitte in Zeiten der Kümmernis. Er taufte die Neugeborenen, besiegelte die Ehen der Jungen und begrub die Toten. Es gab nichts im Leben der Bürger von St. Alazara, was nicht auch mit dem Reverend in Berührung kam. Er war der Sendbote einer Macht, die sie nicht im entferntesten ausloten konnten, daher war es am besten, man stellte sich gut mit ihm. Wenn der Geistliche mit dem stählernen Blick die Hand erhob, dann verstummte alles.
Reverend Mauslocher blieb nun am Rande der Grünfläche stehen und sah sich nach beiden Seiten um. Er war nicht wenig erstaunt, als ein Wagen vorüberfuhr. Diese Dreistigkeit! Der Fahrer hätte doch anhalten und warten sollen, bis er, Mauslocher, die Straße überquert hatte. Er ging nun über die Straße und hielt auf den Laden zu. Barney hielt ihm die Tür auf. Das Glöckchen ertönte wie von einem Ministranten bei der Kommunion geschwungen.
»Katie, mein Kind«, intonierte Reverend Mauslocher.
Barney und die anderen schienen ein wenig zurückzuweichen, ja, es sah fast so aus, als verneigten sie sich. Auch Hercules trat zurück und wurde noch dünner und verlegener als sonst.
»Ich sah deines Vaters Wagen und wollte dir mein Bedauern aussprechen, unser aller Bedauern – wie leid es uns um deine arme Mutter tut. Natürlich werde ich bei nächster Gelegenheit bei euch vorbeischauen.«
»Ach, schon gut …«, setzte Katie an, dann versagte ihr die Stimme. Der sonderbare Blick des Geistlichen brachte sie völlig aus der Fassung. Er blickte herrisch wie immer, aber auch forschend. Sein Blick enthielt jenen flüchtigen, irgendwie besorgten Schimmer, den sie auch im Lächeln der Alten bemerkt hatte.
»Wir in St. Alazara sind auf uns allein gestellt«, erklärte er ernst. »Es sind nicht mehr viele von uns Alten übrig, aber der Herr wacht über uns, und wir geben aufeinander acht. Was immer auch geschehen mag, wir halten zusammen, Lebende und Tote.«
Barney und die anderen nickten bestätigend. Der Prediger hatte sie alle fest im Griff. Aber er war in letzter Zeit immer übellauniger geworden, weil sie das einzige waren, das ihm geblieben war. Die jungen Leute waren fortgezogen und gingen jetzt in St. Cloud zur Kirche, wo jüngere Geistliche predigten und die Zeremonien weniger bizarr waren. Und das war nicht recht, dachte Mauslocher, egal, welche Gefühle die jungen Leute hegten. Man sollte seine Andacht auf Heimatboden verrichten; man sollte auf eigenem Grund und Boden beten, in einer Kirche, erbaut aus den Steinen der Heimaterde. Dort sollte man sich versammeln im Gebet, in Einigkeit und Kraft, über den Gräbern der Väter.
Der Reverend warf Barney einen Blick zu.
»Liebe Katie, ist deine Mutter schon wieder imstande … zu sprechen?«
War es Unsicherheit, was sie, einen Augenblick nur, in diesem allgewaltigen Prediger zu spüren vermeinte? Warum nur? Entweder hatte sie sich geirrt, oder die Unsicherheit war wie weggeblasen. Sein mitfühlendes Lächeln war voll Selbstsicherheit.
Katie schüttelte den Kopf. Sie hatte eben sagen wollen, daß Mama sich mit den Augen mühsam verständlich machen konnte – so wie Mauslocher einen ansah, sagte man immer mehr als man eigentlich wollte –, hielt sich aber mit Aufbietung ihres ganzen Willens zurück.
»Betrüblich, sehr betrüblich.« Der Geistliche war in seinem Mitgefühl sehr überzeugend. »Nun denn, es kommt der Tag, da die Mühsal des Leidens und des Alters hinter uns liegen. Und wir alle werden vereint sein in der Neuen Zeit.«
Die Alten nahmen es begierig zur Kenntnis. Ihre geradezu
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