Der Sommer der Toten
in Norwegen aufgewachsen. Und du sagst nun, daß sie auf deine Beschreibung der Bergszenerie reagiert. Wenn sie wieder aufwacht, frag sie mal, ob das ihre Heimat war. Beschreib mal genau, wie es aussah.«
Und das tat Katie, bis zu den Einzelheiten der seltsamen eckigen Holzkirche.
»Stavkirchen«, erwiderte Judy. »Aus Holzbalken erbaut. Das las ich in ›Kristin Lavranstochter‹. Das sind skandinavische …«
»Warum passiert das alles? Diese Erinnerungen?« Katie fühlte sich immer verwirrter.
»Vielleicht, weil du abgespannt und durcheinander bist«, erklärte David. »Deine Mutter hat dir sicherlich hunderte Male von ihrem Heimatdorf erzählt, und Otto macht ja den Mund überhaupt nie zu und …«
Aber auch dieser Versuch einer Deutung drückte auf ihre Stimmung. Ihre Gedanken und ihre Unterhaltung wurden langsamer. Mama, der Sprache beraubt und offenbar verzweifelt bemüht, ihnen etwas mitzuteilen, hatte vielleicht andere Wege der Kommunikation gefunden. Traf hier der Fall zu, daß als Ausgleich für den Verlust eines Sinnes die anderen um so stärker wurden? Oder war es vielmehr so, daß Katie durch Kummer und Überarbeitung überempfindlich geworden war? Beides war möglich. Schließlich hatten sich schon seltsamere Dinge zugetragen.
»Ich glaube, es wird langsam Zeit für die Kinder«, sagte Judy und stand auf. »Katie, falls du mich nicht drüben im Häuschen erreichst, bin ich bei Opa Krause, du weißt schon.«
Und dann passierte es.
Old Robert kam knurrend aus der dichten Hecke gelaufen – ja, es mußte Robert sein, die Zeichnung um das eine Auge war dieselbe. Aber wie sah er bloß aus? Mit gebleckten Zähnen sprang er Judy an und kläffte blutrünstig.
Ein paar Sommertage hatten genügt, um Robert total zu verwandeln. Sein Alter war ihm nicht mehr anzusehen. Und mit dieser Verjüngung war eine unerklärliche Wildheit über ihn gekommen. Judy fiel rücklings um, außer Reichweite des Hundes, doch hätte er sie angefallen, wenn sich David nicht mit einem Satz auf das Tier geworfen hätte. In der Luft stieß er mit ihm zusammen. Beide landeten auf dem Rasen.
Old Robert war wie der Blitz wieder auf den Beinen, wollte erneut auf Judy zu, die mittlerweile laut zu schreien begonnen hatte.
»Robert!« rief Papa von der Veranda her.
Der Hund erstarrte, knurrend, mit gefletschten Zähnen.
Die Kinder weinten. Judy schrie.
Katie und David sahen einander an. Sie wußten nicht, wie ihnen geschah.
II
Und sie wollte es noch immer nicht glauben. Das war es, was David rasend machte, ihn so kränkte. Als wäre er mit dem Alten zum Wettstreit um Katie angetreten. Liebe um Liebe. Mut um Mut. Vertrauen um Vertrauen. Und hätte verloren.
»Du weißt, daß ich bleiben muß«, sagte sie zum Abschied auf dem Hof neben dem Wagen. »Es ist ja nur ein Tag.«
»Hoffentlich«, sagte er matt. »Wenn ich es morgen nicht schaffe, komme ich Dienstag.«
Dabei sah er sie nicht an.
Sie erriet seine Gefühle. »Wird schon schiefgehen«, sagte sie mit nervösem Auflachen. »Es ist ja nur ein Tag.« Diesmal klappte es mit dem Lachen nicht. »Was kann da schon passieren?«
Er sah sie an, sagte nichts. Das war nicht nötig.
Was konnte nicht alles an einem Tag passieren!
Mama. Butch. Aggie. Und alles andere.
Er drehte den Zündschlüssel. Der Motor erwachte zum Leben.
»Also gut, ein letztes Mal«, sagte er mit einem Blick zum Haus. »Und jetzt sage ich dir, was ich glaube: Dein Vater oder Otto Ronsky oder beide gemeinsam haben Aggie Jensen getötet.«
»Aber warum nur?« Katie war den Tränen nahe.
»Ich weiß nicht, warum«, fuhr er sie an. »Ich glaube, Aggie wußte zu viel. Deswegen mußte sie sterben. Ich glaube, ihr Tod hat mehr mit deiner Mutter zu tun als mit den paar Fleckchen Erde da drüben am Ufer. Und ich glaube, deine Mutter weiß es.«
»Aber das ist doch sinnlos! Es wird auch nichts mehr passieren. Niemandem. Ich bin da. Papa braucht mich. Er hält sein Versprechen bezüglich der Injektionen. Und er läßt morgen oder Dienstag eigens für mich das Telefon wieder anschließen. Und wenn Mamas Zustand sich bis Freitag nicht bessert, wird er einen Arzt aus der Stadt holen.«
»Wenn sie bis Freitag noch lebt«, sagte David düster. »Und Aggie und Butch sind tot. Warum?«
»Es muß jemand anderer gewesen sein«, antwortete Katie lahm. »Ein Landstreicher vielleicht. Irgendein dummer Zufall. Ach, ich weiß nicht. Barney verfiel auf Butch, weil der sich ums Haus herumtrieb, und ich war völlig
Weitere Kostenlose Bücher