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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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sie sich bei einer Frage, die eine eingehendere Antwort erforderte, mit bloßem Ja und Nein zufriedengeben.
    Katie sah ihren Vater an.
    »Sie ist müde«, sagte er. »Doc Bates sagte, man solle sie nicht ermüden …«
    Trotzdem stellte Katie die Frage: »Was immer es sein mag, hat Papa etwas getan, um dir Angst zu machen? Oder tut er es etwa?«
    Papa sah sie scharf an, rührte sich aber nicht von der Stelle und sagte nichts.
    Gefangen in ihrem eigenen gelähmten Körper, sah Mama Katie verwirrt und verzweifelt an.
    Zuerst blinzelte sie einmal. Pause. Dann zwei weitere Male.
    Ja und Nein? Wie war das gemeint?
    »Es hat keinen Zweck«, sagte Papa schließlich. »Katie, ich begreife deine Gefühle, so wie die Dinge liegen. Und natürlich hat sich David über mich das Maul zerrissen. Aber für Mama ist das alles schrecklich. Sie braucht jetzt Ruhe, oder ich muß Doc Bates kommen lassen.«
    Da wurde Mamas Blick hellwach und und aufmerksam.
    Katie drehte den Docht herunter. Das Licht wurde schwächer.
    »Das wird nicht nötig sein«, sagte sie.
    Mama machte den Eindruck, als wolle sie, daß Katie bliebe, doch lag in ihrem Blick auch eine zweite Bedeutung. Etwas, das vorhin noch nicht da gewesen war. Einwilligung. Nein, mehr noch. Resignation.
    Das fiel auch Papa auf. Er schien insgeheim erleichtert, als hätte er Rechtfertigung gefunden, Befreiung von einer gräßlichen, unglaublichen Anklage.
    »Na denn«, sagte er und stellte den Krug unter die Spüle, »ich glaube, heute kannst du beruhigt zu Bett gehen. Wenn diese Schlüssel nicht bald auftauchen sollten, werde ich die Tür aufstemmen, damit du dich im Keller nach Herzenslust umsehen kannst.«

 
II
     
     
    Katie verschloß an diesem Abend zum ersten Mal in ihrem Leben die Tür ihres Zimmers. Warum, das wußte sie nicht. Als Vorsichtsmaßnahme? Aus Angst? Sie war unsicher, und ihre Unsicherheit war Grund genug.
    Unsicherheit war es auch, die sie lange nicht einschlafen ließ. Sie konnte ihrer Unruhe nicht Herr werden. Draußen auf dem Flur tickte gleichmäßig die Uhr und zählte die Minuten in langsamer, ehrwürdiger Kadenz aus. Das wenigstens war eine Sicherheit. Die Zeit.
    War sie das?
    Ihr kam es vor, als könne sie stundenlang nicht einschlafen. Doch als sie auf ihre Uhr sah, waren erst fünfundzwanzig Minuten vergangen. Wieder verging die Zeit, viel rascher diesmal, und sie schlief noch immer nicht. Ein zweiter Blick auf die Uhr zeigte, daß es ein Uhr morgens war. Zwei Stunden waren vergangen. Wie war das bloß möglich? Zwei Stunden in die Unendlichkeit des Raumes in wenig mehr als ein paar Augenblicken entschwunden? Sie stand auf und ging hinaus auf den Flur. Auch die Standuhr zeigte eins. Sie ging hinunter. Bei Mama alles in Ordnung. Papa schlief fest. Wieder nach oben, Tür zuschließen, Augen zu. Die Uhr tickte die Stille hinweg, bis das ganze Haus zu schlagen schien, ein Grab der Zeit.
    Im Dahintreiben gingen und kamen die Bilder rasch und sanft. Wieder eine Erinnerung: ein feuchtes Metallgeländer, feuchtkalte Luft, und rundherum Wasser. Ein Schiff. An Bord eines Schiffes. Die Deckreling eines Schiffes, und in der Ferne eine Stadt, aus dem Meer auftauchend, vom sich drehenden Erdhorizont enthüllt, während das Schiff darauf Kurs nimmt. Etwas, das Katie nie gesehen hatte, etwas, an das sie keine Erinnerung haben konnte. Und dennoch war es ihre Hand auf der Reling – sie spürte Feuchtigkeit und Kälte. Es gab keine Zeit mehr, und die Schiffsreling wich dem Metallgeländer einer Treppe. Sie lief und ängstigte sich. Und dann wußte sie, warum. Hellwach saß sie aufrecht im Bett. Bruchstücke der Erinnerung verschmolzen miteinander. Fragmente, die vor einigen Nächten durch das merkwürdig schleifende Geräusch in der Heizung freigesetzt worden waren. Sie war noch ein kleines Mädchen, als sich diese Erinnerung ausbildete, sechs oder sieben Jahre alt. Sie spielte allein im Keller. War etwas in die Ecke gerollt? Sie lief dem Ding nach und entdeckte in einem Winkel ein haariges bräunliches Etwas, reglos. Sie stieß es mit der Fußspitze an. Und da rührte es sich. Ein kleiner Kopf wurde sichtbar. Knopfaugen, eine rattenähnliche Schnauze. Und dieser haarige Klumpen dehnte sich aus, wurde größer, breitete sich aus wie ein Wesen aus einem Alptraum. Und schoß in die Luft empor.
    Als nächstes erinnerte sich Katie, daß sie die Kellertreppe hinaufgelaufen war und das Metallgeländer durch ihre Hand glitt. Katie konnte sich weder an die Tages- noch an die

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