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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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Jahreszeit erinnern. Mama stand an der Spüle, Papa beim Tisch.
    Mama drehte sich um. Sie sah nicht Katie an, sondern etwas über ihr, hinter ihr und schrie entsetzt auf: »Ben!«
    Papa und Katie wandten sich um. Das geflügelte lautlose Etwas prallte gegen das Ofenrohr, streifte über die Küchenborde, flatterte wieder zurück. Mama schrie.
    »Katie«, befahl Papa ganz ruhig, »hol ein Handtuch und binde es dir um den Kopf.«
    Hier im Norden wußte man, daß Fledermäuse sich mit ihren Krallen im Menschenhaar verfingen.
    Mama schrie hysterisch, und das jagte Katie mehr Angst ein, als das umherschwirrende Tier. Sie tat, was Papa ihr geraten hatte. Papa hatte einen Besen aus dem Schrank geholt.
    Mama schrie und schrie, es war ein hysterischer Angstzustand, in dem sie keine Gewalt mehr über sich hatte. Es ging weit über ihre übliche Scheu vor Tieren hinaus, eine Furcht, der mit Vernunft nicht mehr beizukommen war.
    Sie hörte Papas Schlag und Mamas ruckartiges Schluchzen.
    Dann ein lautes Geräusch, als Papa den Besen schwang. Dann ein weicher Schlag, als der Besen die Fledermaus mitten in der Luft traf. Und danach ein Schlag hart auf hart, als das Tier gegen die Wand prallte. Ein kurzes hohes Quietschen, dann das Auftreten von Papas Stiefel.
    »Ganz ruhig, Katrin«, befahl er. »Sieh nicht her.«
    Doch sie hatte hingesehen. Die Fledermaus baumelte in seiner großen Hand. Schlaff hingen die Schwingen herunter. Und überall Blut.
    Das war es, woran sie sich dauernd zu erinnern versucht hatte. Das war es, was das Schleifgeräusch in ihrem Bewußtsein ausgelöst hatte: die Erinnerung an ihre eigene Angst, aber mehr noch die Erinnerung an die gräßliche Angst ihrer Mutter angesichts des flatternden Etwas. War Mama vorige Woche wieder so erschrocken? Vor etwas Ähnlichem? Und war sie unter der Last des Alters und der Anspannung zusammengebrochen? Fledermäuse waren Geschöpfe der Dunkelheit. Sie waren hier auf dem Lande fast in jedem Stall anzutreffen. Vielleicht war ein Tier irgendwie ins Haus gelangt wie damals. Vielleicht war es das? Deswegen war die Kellertür verschlossen! Ja, das mußte es sein!
    Sicher befand sich das Tier noch immer da unten, obgleich Papa versucht hatte, es zu erlegen. Und natürlich wollte er darüber nicht sprechen. Weil er ihr Aufregung ersparen wollte.
    Es war alles ganz einfach.
    Aber ihre Hochstimmung war nicht von langer Dauer.
    Denn was hatte die Fledermaus – falls da unten eine war – mit allem anderen zu tun? Den Morden, den stechenden, verstohlenen Blicken von Doc Bates, den Schwärmereien von Reverend Mauslocher? Und was hatte sie mit Hercules Rasmussens Angst zu tun?
    Die Uhr auf dem Flur zeigte auf fünf vor halb vier. Das schimmernde Pendel beschrieb einen Bogen in höchster Vollendung. Doch in der Dunkelheit – oder war es Katies Schlaflosigkeit – schien es sich kaum zu bewegen, vollführte es die Abwärtsbewegung so langsam, als würde die Zeit fast stillstehen.
    Katie ging wieder zu Bett.
    Am nächsten Morgen zeigte sich, daß Papa sich an die Fledermaus nicht erinnern konnte. Und nach einigem Nachdenken sagte er, er wäre sicher, unten im Keller gäbe es keine. »Aber wenn du Angst hast, geh’ lieber nicht runter. Sie könnte hinauf ins Haus kommen, wie angeblich damals in deiner Kindheit, und wir möchten doch nicht, daß deine Mutter wieder so etwas durchmacht. Noch dazu in ihrem jetzigen Zustand.«

 
Montagmorgen, 21. Juni
     
     
I
     
    Die sieben hohen Kerzen bildeten einen Kreis um die zwei Särge. Die alten Dorfbewohner knieten gebeugt in ihren Kirchenstühlen, manche unter großen Schmerzen auf gichtigen Knien. Dabei trugen sie keineswegs Kummer zur Schau, sondern vielmehr wache Erwartung, als müßte jeden Augenblick etwas Wunderbares geschehen. Alles in allem wirkten sie freudig erregt.
    Der alte Ben sei vermutlich der einzige unter den Lebenden, der nicht anwesend wäre, hatte Christ Gorman Katie bei ihrem Eintreten zugeflüstert. Doch die Toten hätten dafür sicherlich Verständnis – Ben hatte gewiß zu Hause bei seiner kranken Frau bleiben müssen.
    Dann ließ er das Totengeläute erklingen, sein Lieblingsgeläute, das er getragen, traurig und sehr würdig zum Erklingen, brachte.
    Totenglocken für ein totes Dorf, dachte Katie bei sich.
    Während der alte Willis sie ganz nach vorne geleitete, spürte sie die Blicke aller Anwesenden im Rücken. »Aggie hatte ja keine Angehörigen mehr«, flüsterte Willis ihr zu, »und wir wissen ja, wie eng befreundet

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