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Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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schnell zu vergessen. Aber es gelang ihm nicht. Er fragte sich, ob er Opfer einer optischen Täuschung geworden war. Oder ob das, was er gesehen hatte, eines dieser modernen Kostüme für Kinder war. Aber eigentlich gab es auch viel Wichtigeres in seinem Leben, über das er sich den Kopf zerbrechen musste. Ihm fiel nur gerade nicht ein, was. Mit dem Aufzug fuhr er in seine Etage.
    „ Idioten“, murmelte er in seinen walrossartigen Schnauzbart, als er an seine Arbeitskollegen dachte. Seine Schlüssel klimperten im Schloss der Wohnungstür. Er stellte die Aktentasche neben die Garderobe und hängte den grauen Mantel an den Haken. Im Spiegel sah er seine Glatze. Er strich das Resthaar darüber. Seine Frau lag im Wohnzimmer.
    „ Tag“, rief Daniel.
    Seine Frau reagierte nicht. Sie schaute über ihre plüschigen Pantoffeln, die auf einer Fußbank lagen, auf den Fernseher.
    „ Fette Wachtel“, dachte Daniel und ging in die Küche. Sein Hintern streifte den Türrahmen. Die Mikrowelle brummte und klingelte. Daniel nahm den Teller und ging ins Wohnzimmer. Die Couch ächzte, als er sich schwerfällig setzte. Jeden Tag um diese Zeit schauten sie fern, wenn er von der Arbeit kam. „Haustiertausch“ hieß die Sendung. Daniel stopfte die Roulade in sich rein. Sie war mit Speck gefüllt. Alles sollte mit Speck gefüllt sein, dachte er. Er stopfte die Spiegeleier in sich rein. Das Eigelb war viel zu fest. Er stopfte die Kartoffeln in sich rein. Als die Erbsen an der Reihe waren, geschah es. Der Fernseher ging aus. Nur noch ein langer heller Streifen von einer Seite des Bildschirms zur anderen. Seine Frau reagierte nicht. Daniel stutzte, und alle Erbsen bis auf eine rieselten von seiner Gabel auf den Teppich. Und da erinnerte er sich. Er war fünf oder sechs, als er sich eine Erbse in die Nase steckte. Und seine Mutter hatte furchtbar geschimpft, aber sein großer Bruder lachte nur.
    „ Na warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt!“, hatte sie gesagt, und dann waren sie zum Arzt gefahren.
    Es war der Sommer, wo er zum ersten Mal alleine zum See fahren durfte. Und da hat er es wirklich getan. Sich vom höchsten Ast ins Wasser geworfen. Und alle hatten ihn so bewundernd angesehen. Und die Hunde planschten durch das flache Wasser. Die Hunde gehörten zu den älteren Jungs, die schon Mopeds fuhren und rauchten. Und die Musik. Daniel hörte sie jetzt gerade wieder in seinem Kopf, aber der Titel war ihm entfallen. Aus batteriebetriebenen Kofferradios kam sie. Irgendwas mit Amerika wurde da gesungen, und er wollte da auch unbedingt mal hin, nach Amerika. Und als dann noch der Zirkus kam, da war die Welt, wie sie sein sollte. Die Clowns waren doof, aber der Zauberer zog ein Kaninchen nach dem anderen aus seinem schäbigen, verbeulten Zylinder. Und an jenem Abend in der Manege wusste Daniel, dass er auch mal Zauberer werden würde, wenn er groß war. Und dann kam alles so anders. Und jetzt saß er hier und fand sich einfach nur zu dick. Aber jetzt dachte er, und er musste ein wenig lachen bei dem Gedanken, dass er ja immer noch Zauberer werden könnte, wenn der Fernseher sowieso gerade kaputt war. Und dann sagte er zu seiner Frau, und er hat sie seit vielen Jahren nicht mehr so genannt: „Liebling zieh dir was an, wir gehen aus.“
     

     

Kapitel 30
    Im grellen Licht der Nachmittagssonne wurde das Grün jenseits der Leitplanken rar. An dessen Stelle trat eine Landschaft, mit der Socke nichts anzufangen wusste. Riesige, leere Flächen mit sandigen Böden, trocken und rissig. Nur vereinzelt wuchsen Büsche. Sie sahen traurig aus. Dazwischen lagen allerlei rostiger Müll und Unrat. Socke musste unvermittelt an ein Schlachtfeld denken. Oder an Waldbrand. Er grübelte, ob das vielleicht irgendeinen Nutzen erfüllte, der ihm verborgen blieb. Wenn es einen gab, beschloss er, konnte es kein guter sein. Zwar hatte auch das Hässliche einen Platz in der Welt verdient, aber das hier war wie eine offene Wunde. Er fand es seltsam, das Land am Rand der Straße in diesem Zustand zu sehen. Immerhin fuhren die Menschen hier täglich in Scharen mit ihren Autos entlang. Das musste einem ja die Laune verderben. Doch als er die ersten Ausläufer von Erzingen erblickte, erschien ihm die Brache wie eine erstrebenswerte Alternative. Die Schornsteine waren höher als alles, was Socke je gesehen hatte. Sogar höher als die größten Bäume in den Wäldern der Elben. Die Fabriken schienen aus Metall gebaut, nur durch Rauch zusammengehalten zu werden.

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