Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
schließlich die Navigation.
Lange musste er die Landkarten studieren, bis er das
kleine Neunseen entdeckte. Wo Rabenstadt schon ein recht übersichtlicher Ort
war, war Neunseen ein echtes Nest. So winzig war der Fleck auf der Karte, der
das Dorf kennzeichnete, es hätte Fliegendreck sein können. Neunseen lag
inmitten von vielen blauen Flecken und grünen Flächen, die Seen und Flüsse in
großen Wäldern symbolisierten. Umgeben von einem Gebirge trug das Ganze den
Namen Nachtschattental. In Rolo erwachte der Entdecker.
„Wieso hab ich noch nie davon gehört oder gelesen? Ist
doch nur eine Tagesreise entfernt?“
„Was sagst du?“, fragte sein Vater.
„Ach, schon gut.“ Rolo hatte einfach keine Lust zu
reden.
So wurde es Mittag. Als sie beinahe die halbe Strecke
bewältigt hatten, bekam Rolo den ersten Vorgeschmack der Fremde. Die Landschaft
jenseits der Straße veränderte sich. Kleine Hügel tauchten am Horizont auf.
Nicht hoch waren sie, nur zarte Erhebungen in einer Landschaft, die ihr buntes
Sommergewand aus Gräsern und erntereifem Getreide trug. Bald sahen sie Wälder,
in denen die Bäume, anders als zuhause, nicht in ordentlich gepflanzten Reihen
wuchsen. Dicht und verwuchert standen sie und erschienen Rolo sehr
geheimnisvoll. Der wilde Charme lockte ihn, und lange blickte er über die
Schulter zurück, als sie längst vorbeigefahren waren.
Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Tante
Farrah schon mal gesehen zu haben. Auch in den Erzählungen seines Vaters kam
sie nie vor. Er war sehr gespannt, jemanden zu treffen, der seine Mutter
gekannt hatte.
Aus grünen Hügeln wurden bewaldete Berge. Sie warfen
lange Schatten über tiefe Täler. Kleine Ortschaften lagen dort, durch die sich
Flüsse schlängelten. Sie fuhren über eine Brücke, und zu beiden Seiten ging es
Hunderte von Metern in die Tiefe. Unten floss ein reißender Strom zwischen den
Brückenpfeilern hindurch. Rolo war begeistert. Die Fahrt dauerte jetzt schon
viele Stunden.Sie verließen unter Rolos Kommando die Hauptstraße und
bogen auf eine schmale Serpentine. Hier sahen sie das erste Schild mit der
Aufschrift Neunseen . Wo der Weg bisher sachte anstieg, fuhren sie jetzt
mitten durch das Gebirge. Zu ihrer Linken erhob sich eine steile Felswand.
Grüne zottelige Pflanzen hingen an ihr hinab wie Bärte. Zu ihrer Rechten ging
es steil abwärts in eine Schlucht. Rolo schaute aus seinem Seitenfenster,
konnte aber die Tiefe nicht abschätzen.
„Bitte kein Gegenverkehr. Alles, nur kein
Gegenverkehr“, murmelte Paps nervös. „Diesen Weg habe ich nie gemocht.“
Er musste schreien, um das Geräusch des Motors zu
übertönen. „Schon damals war es die einzige Straße zu Tante Farrah. Aber dass
hier immer noch nicht ausgebaut wurde?“
„Wahrscheinlich wegen des Gebirges“, rief Rolo. „Hier
ist einfach kein Platz. Ich find’s super. Was ist denn im Winter, wenn der Pass
zuschneit?“
„Es ist keine Seltenheit, dass Neunseen monatelang von
der Außenwelt abgeschnitten ist. Aus diesem Grund haben wir Tante Farrah auch
nie zu Weihnachten besucht. Wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass wir vor
Ostern nicht wieder zuhause gewesen wären. Viele der Bewohner von Neunseen scheinen
gerade das sehr zu mögen. Ist ein ganz eigenes Völkchen. Wirst schon sehen.“
Die Felswand zur Linken war so steil, dass der höchste
Punkt aus dem fahrenden Wagen nicht zu sehen war. Selbst dann nicht, als Rolo
sich so weit aus dem Seitenfenster lehnte, bis sein Vater ihn am Hosenbund
zurück ins Auto zog. Nach und nach wölbte sich die Felswand zur Straße hin, und
schon bald fuhren sie unter einem Felsvorsprung, wie unter einem steinernen Dach.
Paps drosselte das Tempo und schaltete die
Scheinwerfer ein. Der Motor knatterte gleichmäßig. Es war neblig hier drin.
Doch machte der Nebel keine Anstalten, hinaus auf die Wiese zu gelangen.
„Bestimmt wegen des Luftdruckes“, versuchte Paps zu
erklären.
Rolo schaute durch das Dachfenster des Wagens und
betrachtete die steinerne Decke über sich. Aus kleinen Rissen tropfte Wasser
hinab. Das Plätschern hallte nach. Flechten und Moose wuchsen hier, gut
geschützt vor der Sonnenhitze. Hier unten war immer Zwielicht.
„Stopp!“, schrie Rolo.
Sein Vater trat kräftig auf die Bremse. Der Wagen tat
einen Ruck und der Motor verstummte. Die Gestalt stand in der Mitte der Straße.
Tief ins Gesicht einen breitkrempigen Hut gezogen, unter dem ein weißer Bart
hervorkam. Ein langer grauer Mantel, derbe
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