Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
wirklich.“
„Sagen Sie, Solomon “, fragte Paps, „ist es noch weit bis ins Tal? Wissen Sie, dieser neblige
Tunnel hier ist schwer zu fahren.“
„Nein, weiß ich nicht. Weit? Nein, nicht mehr weit.“
„Sie haben einen schönen Stock da. Besonders der
geschnitzte Krähenkopf ist toll“, warf Rolo ein.
„Findest du?“ Solomon betrachtete seinen Stock, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, fürwahr.
Der ist wirklich schön.“
Rolo glaubte, so etwas wie Überraschung in Solomons Gesicht zu erkennen. Der graue Mann beugte sich
hinunter und kam mit seiner Kartoffelnase ganz nah an Rolos Gesicht.
„Tatsächlich? Ist das so? Du bist ein aufmerksamer
Kerl. Ein guter Beobachter, fürwahr, das bist du. Das liegt an deinen wissenden
Augen. Glaub mir, dafür hab ich ein Auge.“ Solomon gluckste. „Ha, ein Auge. Na, egal. Ich glaube, mein
Junge, du trägst eine alte Seele. Ja, das wird es sein. Aber keine Sorge, das
ist gut. Wirklich gut, vor allem für dich.“
Eine alte Seele. Rolo verstand nicht, was Solomon meinte. Aber er fand, es klang gut. Noch etwas war seltsam. Gerade eben wirkte Solomon noch so gewaltig. Jetzt erschien er Rolo kaum größer
als sein Vater.
„Nun, denn“, sagte Paps, „ich hoffe, dass Sie Ihr Lamm
finden.“
„Lamm? Oh, ja, mein Lamm. Na, ich nun wieder. Stehe
hier rum und träume wie eine alte Esche. Nun, wenn ihr es nicht gesehen habt,
muss es noch im Tal sein. Gibt ja nur den Weg hier. Hoffe, das arme Ding hat
sich nicht in die Berge geschlagen. Nicht dran zu denken. Und dann noch der
Fuchs.“
„Sagen Sie, Herr Solomon “, meldete sich Rolo, „wer hütet denn Ihre Herde, wenn Sie hier sind?“
Rolo fand, das war eine gute Frage. Er kam sich sehr schlau vor.
„Herde?“, stutzte Solomon . „Ach, die Herde. Nun ja, die hütet sich selbst.
Ungemein unterschätzte Tiere, diese Schafe. Wirklich.“ Plötzlich erstarrte er.
„Hört ihr das?“ Er blickte über die Wiese zum Waldrand.
Auch Rolo schaute, sah aber nichts außer Wildblumen. Er
hörte auch nichts Ungewöhnliches.
Solomon ließ seinen Blick schweifen. „Driftwood“, flüsterte
er. „So hat es schon begonnen. Auf bald ihr Blutguts, es hat mich gefreut.
Wirklich gefreut hat es mich.“ Sprach es und stapfte, ohne sie anzusehen, ins
hohe Gras hinaus, wobei er eine Spur von Nebel hinter sich her zog. Mit eiligen
Schritten verschwand er zwischen den Bäumen.
„Driftwood?“, wunderte sich Paps. „Seltsamer Name für
ein Lamm.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Irrer“.
Rolo schaute Solomon hinterher. „Irre.“
Der Nebel in
der halben Höhle war nicht mehr so dicht und sie kamen gut voran. Rolo schaute sich
jetzt noch aufmerksamer um. Wo die Bäume nicht so hoch gewachsen waren, konnte
er einen Blick auf die Berge am Horizont werfen. Er lächelte, lehnte sich
zurück und freute sich auf den Sommer. Endlich wurde es heller. Die halbe Höhle
war zu Ende. Paps stoppte den Wagen. Die beiden Blutguts ließen sich mit einem
Seufzer in ihre Sitze fallen.
„Abgefahren“,
meinte Rolo.
„Nein, jetzt
nicht“, erwiderte sein Vater, „erstmal die Beine vertreten.“
Rolo lachte.
Sie stiegen aus. Es raschelte in den Büschen, wo sich anscheinend einige
Bewohner des Waldes erschrocken davon machten. Rolo blickte zurück zum Ende
ihrer Passage unter dem Fels. Erst jetzt erahnte er, unter welch einem
gewaltigen Bergmassiv sie unterwegs gewesen waren. Das war kein einzelner Hügel
oder Berg. Es war eine in sich geschlossene Gebirgskette. Wie gewaltig mussten
die Bäume dort oben sein, dass sie so tiefe Wurzeln schlugen, die bis hinab zur
Straße reichten? Sein Vater trat von hinten an ihn heran. „Beeindruckend,
oder?“
Rolo nickte.
„Neunseen
liegt in einem Gebirgskessel. Das Nachtschattental geht einmal drum herum wie
ein Atoll. Unterbrochen wird das Gebirge nur hier, wo die Straße läuft. Und
durch die Wiesen mit dem angrenzenden Wald. Allerdings ist dieser Weg kaum
begehbar. Mündet dahinten in eine tiefe Schlucht. Und jenseits der Bäume geht
der Fels weiter.“
„Wie geil
ist das denn!“, staunte Rolo.
Sein Vater
überging die Bemerkung und fuhr fort. „Fast überall ist er so geil, äh, steil
wie hier. Es gibt jedoch einige Stellen, wo das Gebirge sanfter ansteigt,
sodass man hineingelangen kann, ohne eine Bergsteigerausrüstung. Oben ist es
überwiegend bewaldet. Großartiger Blick bei klarem Wetter. Ich selbst war
einmal oben, habe aber auch das Wenige darüber gelesen, das es
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