Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
es bringt dir nichts, wenn deine Freunde und Nachbarn
ständig wegen Reparaturen zu dir kommen. Kurzfristig mag deine Kasse klingeln,
aber du wirst nur die Preise aller Waren im Ort hochtreiben. Die Baumfäller
können kaum barfuß in die Wälder, wie auch die Boten ungern barfuß die Briefe
austragen. Möchtest du, dass die Zimmerleute sich Splitter laufen und nicht
mehr arbeiten können?“
Rolo dachte
an die armen Leute, die öffentlich angeprangert wurden und bestimmt auch hier
zwischen ihren Freunden, Nachbarn und Familien saßen. Aber es erschien ihm auch
sinnvoll und richtig, was die schwarze Frau zu sagen hatte. „Kommen wir nun zu
den Geschäften des würdevollen Bürgermeisters Mocke. Nach dem stürmischen
Beginn seiner jüngsten Amtszeit …“
Jemand
zupfte Rolo am Ärmel. Er schaute sich verwundert um und sah Tinka. Oder Lana.
Er konnte die beiden rothaarigen Mädchen, die auch noch fast das gleiche Kleid
trugen, nicht unterscheiden. Der Blick ihrer klaren Augen ging ihm durch Mark
und Bein. Um seine Verlegenheit zu überspielen, neigte er rasch den Kopf und
brachte sein Ohr nah an ihren Mund. Mädchen waren ihm ein Rätsel, mit ihren
Launen und ihrem seltsamen Gehabe. Ein Rätsel, dessen Lösung ihm der Mühe nicht
wert schien. Warum dieser Moment ihn so kalt erwischte, wusste er nicht. Noch
oft sollte er sich daran erinnern.
„Ist das
nicht irre? Gefällt es dir hier?“, fragte sie.
„Ja, ist
toll. Aber auch irgendwie abgefahren. Wer ist die?“ „Das ist nicht die ,
sondern die Bendith Geserith“, lachte das Mädchen. „Sie kommt einmal im Jahr
und sieht nach dem Rechten. Da wird dann gelobt und viel gemeckert. Besonders
habgierige Handwerker und Händler sind ihr ein Dorn im Auge. Jetzt geigt sie
gerade dem Bürgermeister die Meinung.“
„Den
Bürgermeister? Aber der ist doch das Oberhaupt der Stadt?“
„Klar, aber
er ist auch ein gewählter Vertreter der Bürger. Da muss man ihn manchmal dran
erinnern. Außerdem wird sie gleich berichten, was wir vom nächsten Jahr zu
erwarten haben. Ich weiß genau, was du jetzt fragen willst. Ich weiß auch
nicht, woher sie das alles weiß.“
„Abgefahren.
Und das Gedicht, das ihr vorhin alle zusammen aufgesagt habt?“
„Gedicht? Du
meinst die Losung. Das ist ein alter Vers. Wer den nicht kann, der ist nicht
aus Neunseen. So konnte die Bendith Geserith früher herausfinden, ob sich
keiner eingeschlichen hat, der hier nicht hingehört.“
„So wie ich.
Hier gibt es viele seltsame Leute.“
„Findest du?
Wo denn?“
„Na ja, eigentlich
überall. Da gibt es diese langhaarigen Großen mit den Gewändern. So ein
bisschen wie Karneval und Mittelaltermarkt.“
„Das kenn
ich nicht. Aber ehrlich gesagt bist du der Einzige, der hier seltsam angezogen
ist.“
Rolo entging
ihr pikierter Ton nicht.
„Oh, nein,
versteh mich nicht falsch. Ich finde es toll. Aber eben ganz anders als da, wo
ich herkomme. Da tragen eben alle“ – er schaute an sich herab - „Jeans und
T-Shirt.“ „Das ist aber ganz schön langweilig. Pst, jetzt kommt gleich der
spannende Teil.“ Mit diesen Worten wandte sie sich von Rolo ab und gesellte
sich zu einer Gruppe kichernder Mädchen.
Rolo seufzte
und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Er vermied es, seinen Vater
anzugucken, den er aus dem Augenwinkel breit grinsen sah. Rolo schaute verlegen
zum Himmel rauf, nur um irgendwo hinzuschauen. Inzwischen war es dunkel, und
keine Sterne waren zu sehen hinter dichten grauen Wolken. Leichter Regen setzte
ein.
„So weit zum
Rat der Stadt“, sagte die Bendith Geserith. „Wenden wir uns erfreulicheren
Dingen zu. Bitte nehmt Platz, meine Freunde. Es war ein wundervoller früher
Frühling nach einem sehr schneereichen Winter. Doch haben alle Dächer dem
Schnee standgehalten. Leider haben die hungrigen Wölfe den Lämmern übel
mitgespielt. Der Bürgermeister wird die Neolinga bitten, die Wolfsjagd im
Sommer fortzusetzen, wenn die Welpen aus dem Gröbsten raus sind. So traurig das
Töten von Tieren ist, ist es doch ein notwendiges Übel. Außerdem wird es den
werten Herrn helfen, die verstaubten Knochen etwas auf Trab zu bringen.“
Die Menge
lachte.
„Wir
befinden uns seit so langer Zeit im Frieden, dass kaum noch jemand die Jahre
zählt. Nicht immer waren die Neolinga nur zur Jagd da. Vergesst nicht, warum
die Neolinga einst die Farralot von den Farindor übernommen haben. Nicht
unerwähnt lassen möchte ich den unerschöpflichen Eifer unseres
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