Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
verehrten
Schulleiters Adalar. Steh ruhig auf, mein Freund. Ich sehe dich doch.“
Weiter vorne
erhob sich eine große Gestalt. Unter lautem Beifall verbeugte er sich. Bevor
Rolo ihn richtig sehen konnte, hatte er sich wieder gesetzt.
„Die
Farralot?“, wiederholte Rolo leise.
„Das ist die
Schule“, flüsterte Onno.
„Schon immer
war das Nachtschattental eine Insel, sagen die einen, eine Festung meinen die
anderen. Wie auch immer, feststeht, dass wir mit den Konflikten der Welt nichts
zu schaffen haben. Doch hört mir zu! Nicht ewig wird das so weitergehen. Öffnet
euch für die Welt da draußen. Natürlich ist es mir viel wert, dass ihr die
alten Traditionen noch am Leben erhaltet. Wäre ich sonst hier? Aber vergesst
nicht, dass die Zeiten sich mehr als einmal gewandelt haben. Wenn Neunseen
nicht die Tore öffnet, wird die Veränderung über uns hereinbrechen wie eine
Flutwelle. Lasst lieber kleine Wellen hinein, die eine weniger zerstörerische
Wirkung auf uns haben. Wir können die Zeit nicht aufhalten. Und wer sich ihr
allzu lange widersetzt, dem wird sie die Beine wegziehen. Habt keine Angst. Es
gibt viel Gutes da draußen. Nun zu den Gerüchten.“
Wieder wurde
getuschelt.
„Ja, ich
weiß, dass viele hier beunruhigt sind. Aber es sind nach wie vor nur Gerüchte.
Wir wissen nicht, was des Nachts um den Spineus schleicht, wie die Älteren die
Hecke nennen, die den Ort umspannt. Es könnten auch nur streunende Hunde sein.
Und die angeblichen Fußspuren haben sich nach Überprüfung durch Meister Adalar
als die Spuren des Entdeckers eben dieser Spuren erwiesen. Ich werde jetzt
keine Namen nennen, um dem Betroffenen nicht noch mehr Schande zu bereiten.“
Rolo
bemerkte, das Onno errötete.
„Dennoch
begrüße ich es, dass ihr die Augen offen haltet. Hört gut zu! Ich sage euch, es
wird Veränderungen geben! Bald! Doch sollten wir sie willkommen heißen wie lang
entbehrte Freunde. Wie die Veränderungen sich auf unser aller Leben auswirken,
kann ich jetzt nicht sagen. Doch solltet ihr nicht in starre Furcht verfallen.
Wir sind eine starke Gemeinschaft, daran wird so leicht nichts etwas ändern.
Und keiner wurde jemals fallen gelassen im Nachtschattental. Einige von euch
wissen, wovon ich rede. Und die es jetzt nicht wissen, die geht es nichts an!
Vertraut mir. Dies sind nicht die Zeiten für bierseliges Gewäsch. Lasst mich
noch sagen, dass Vorsicht unser Begleiter sein soll im nächsten Jahr. Und ich
meine damit nicht ungerechtfertigtes Misstrauen, Angst oder sogar Panik.
Vorsicht ist das, was den Hasen vor dem Wolf bewahrt. Den panischen Hasen holt
der Bussard, weil er zu viel Radau macht im Unterholz.“
Auch Rolo
hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber es klang sehr
spannend für ihn.
„Es freut
mich besonders, heute zwei Besucher in unserer erlesenen Runde begrüßen zu
können. Steht schon auf, ihr beiden.“
Rolo
erschrak. Sein Vater zog ihn am Ellbogen hoch und stand selbst auf. Die Blicke
unzähliger neugieriger Augen ruhten auf ihnen.
„Dies sind der
ehrenwerte Gatte meiner Nichte Grellon und sein Sohn Roland. Ich bitte euch,
sie willkommen zu heißen. Sie sind auf meine persönliche Einladung hier.“
Verhaltener
Applaus. Die Blutguts setzten sich schnell wieder hin. Obwohl Rolo vom Nieselregen
durchnässt war, wurde ihm sehr warm.
„Sie werden
bestimmt jedem gern berichten von ihrem Heimatort Rabenstadt und dem Leben
außerhalb des Nachtschattentals. Nutzt diese Chance. Kommen wir nun zu denen
unter uns, die sich in diesem Jahr besonders hervorgetan haben.“
Rolo sah
einen Mann. Er war nicht sonderlich groß und schob einen gewaltig dicken Bauch
vor sich her, den er unter schwarzer Kleidung versteckte. Ein Cape hing über
seinen Schultern. Er stand nur da und schaute rüber. Rolo schupste seinen Vater
an und deutete auf den neugierigen Fremden. „Belenus? Bist du das wirklich?“
Paps sprang von seinem Stuhl und näherte sich mit offenem Armen dem dicken
Mann. Auch der schien ausgesprochen froh, Rolos Vater zu sehen. „Grellon, mein
Junge“, schluchzte er. „Dass meine alten Augen dich noch einmal wiedersehen.
Wie lang ist das her? Elf Jahre?“
Die beiden
Männer umarmten sich herzlich und ignorierten den Protest der Sitznachbarn über
die Störung.
„Zwölf
Jahre“, sagte Grellon und löste sich aus der Umarmung. „So ziemlich genau zwölf
Jahre, Belenus. Damals war Roland in etwa ein Jahr alt. Ach, Roland, komm
schnell her!“
Rolo stand
auf
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