Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Schiff hatte angelegt. Es
war ein Zweimaster. Bilder von Wolken zierten die hellen Segel. Vor dem weiten
Horizont konnte Rolo kaum ausmachen, wo das Bild endete und der Himmel begann.
Alles schien im Wind zu treiben. Den Bug des Schiffes schmückte eine prächtige
Galionsfigur. Ein geschnitzter Hirsch mit einem mächtigen Geweih.
„Jetzt, mein junger Freund, wirst du sehen“, raunte
Hallimasch.
Kapitel 6
Der Wald lag
still im Zwielicht eines frühen Sommerabends. Driftwood verbarg das Gesicht in
den Pfoten. Socke kniete auf der Erde und sprach zu einem Bündel trockenem
Holz, das er in der Mitte eines Steinkreises aufgeschichtet hatte. Das Holz
antwortete mit leisem Knistern. Rauch stieg auf, und eine kleine Flamme
entsprang. Socke bedankte sich höflich und stand auf. In Größe und Gestalt
ähnelte er Driftwood. Lange, dünne Arme und Beine, ein großer Kopf, ein dichter
Pelz. Nur war sein Pelz strahlend weiß, mit einem Karamellbraun an Bauch und
Armen. Seine Schnauze zierte eine kleine, runde Nase. Umgeben von einer dunkel
gefärbten Gesichtsmaske, wie die eines Waschbären, reflektierten seine gelben
Augen den Schein des Feuers. Socke sah nicht nur freundlicher aus als
Driftwood, er war es auch. Er rieb sich die Erde von den Knien und setzte sich
auf einen Stein.
„So. Besser
ein Feuer anzünden, als über die Dunkelheit jammern.“
Driftwood
schaute auf. „Wenn das Feuer uns den Weg zeigen kann, ist es mir mehr als
willkommen. Ansonsten kann es mir den Buckel runterrutschen.“ Aus einer braunen
Umhängetasche, die an einen Stein gelehnt stand, zog Socke einen Topf.
Vorsichtig stellte er ihn ins Feuer.
„Der
Salatkopf hat wohl vergessen zu erwähnen, wie lange wir geschlafen haben“,
moserte Driftwood. „Alles Sack und Asche.“
„Pst! Nenn
ihn nicht so“, zischte Socke. Er blickte sich erschrocken um. Als nichts
geschah, ging er kopfschüttelnd ein paar Schritte und begann, Pilze zu
pflücken.
Driftwood
starrte missmutig ins Feuer.
„Niemand
mehr da, den wir kennen. Alle Aufzeichnungen sind sinnlos!“ Er griff mit einer
Pfote in den Pelz auf seinem Bauch und zog eine Karte heraus. Irgendwie schien
sich dort eine Tasche zu verbergen. Die Karte war brüchig und vergilbt. Er
faltete sie auseinander.
„Um Neunseen
ist vieles wie gehabt. Aber außerhalb des Tals …“ Seine Stimme verlor sich in
mürrischem Gemurmel.
Socke trat
ans Feuer und streute allerlei Grünzeug ins kochende Wasser. Er trug jetzt eine
kleine Schürze. Driftwood dachte laut. „Dort war der Ort, wo der Drache
hauste.“
Socke rührte
die Suppe mit einem Holzlöffel.
„Der
Drachenhort war nicht da“, sagte er, ohne hinzusehen. „Das ist der
Katzenbuckel. Der Drache war viel weiter im Norden.“
„Meinst
du?“, grübelte Driftwood. „Mag sein. Aber dort hatten wir den Ärger mit den Kratzen.
Diese Mistviecher!“
„Nein“,
korrigierte Socke. „Die Kratzen waren im Westen bei Morgobath. Erinnerst du
dich nicht an Auro, den Nasenleser?“
„Ach, diese
kleine Made.“ Driftwood zerknüllte die Karte und warf sie hinter sich ins
Gebüsch. „Was gibt’s zu essen?“
„Waldpilzsuppe.“
Socke schlürfte sie vorsichtig vom Löffel. „Ist gleich fertig.“
Driftwood
verschränkte die Arme vor der Brust. „Damals hätte ich einfach Schnorbus, die
schallende Schnecke gefragt“, murmelte er. „Weiß der Henker, ob die sich noch
irgendwo rum treibt. Oder Fledder. War immer für einen Tipp gut. Aber heute?
Eine Karte allein wird uns nicht weiterbringen. Als hätte jemand das ganze Land
umgepflügt. Wo ist nur dieses verfluchte Buch?“ Er stand auf und schaute in die
Baumwipfel. „Es ist ekelhaft. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Wir brauchen
Hilfe. Jemanden, der den Irrsinn da draußen kennt. Jemanden, der sich
unauffällig unter den Menschen bewegen kann … das ist es!“, rief er plötzlich.
„Ich hab es!“
Socke
blickte ihn erwartungsvoll an.
„Wir
brauchen einen Menschen! Socke, wir packen ein!“
„Und die Suppe?“
Socke klang enttäuscht.
„Ach ja.“
Driftwood setzte sich wieder.
Kapitel 7
Als die
Sonne langsam hinter den Gipfeln der Berge verschwand, tauchten die Fackeln den
Festplatz in ein verzaubertes Spiel aus Licht und Schatten. Rolo hatte noch nie
eine so große Menschenmenge schweigend erlebt. Der Abendwind, der vom See zu
ihm hinüberwehte, brachte die Geräusche der Schiffsbesatzung mit sich.
Kommandos wurden gebrüllt, eilige Füße rannten über das
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