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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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nicht den Halt zu verlieren. Er war sehr froh über seine
vier Beine. Um sich zu orientieren, bestieg er einen Fels, der in der schroffen
Landschaft etwas hervorstach. Am Fuß des Berges, gar nicht weit vor ihm, sah er
die Quelle des Geräusches. Die Autobahn. Trotz der späten Stunde war sie stark
befahren. Da unten komm ich nur bis zur Leitplanke. Hier oben, seitwärts
durch die Felsen wird es mich Stunden kosten und bringt mich vom Weg ab. Wenn
ich hier überhaupt je runterkomme. Und was dort oben wartet, möchte ich gar
nicht wissen. Er entschied sich, einen Weg entlang der Straße zu suchen.
Irgendwann konnte er vielleicht zwischen den Autos hindurch huschen und in
Richtung Nachtschattental entwischen. Er erreichte den Straßenrand. Der Lärm
der Autos betäubte seine sensiblen Sinne. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Halb
blind wandte er sich nach Norden, lief los. Nur ein schmaler Streif kargen
Grases zwischen Fels und Straße. Die Lichter der Autos erzeugten tanzende
Schatten. Sie wurden länger und verschwanden. Ein Schatten blieb. Tweeds Flucht
war vorbei. Die schwarze Gestalt wuchs aus dem heißen Asphalt. Sie entstieg dem
Schatten wie einem dunklen See. Ihr schwarzer Umhang verschmolz mit der Nacht.
Sie stand gebückt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Tweed wusste, mit
wem er es zu tun hatte. Er war gewarnt. Der Lärm der Straße rückte für ihn in
weite Ferne. Lichter kamen und gingen in schneller Folge. Die Gestalt kam
näher, ohne einen Schritt. Wie auf Schienen glitt sie heran. Eine zweite trat
hinter ihr hervor, dann eine dritte, eine vierte. Sie bewegten sich wie
Spiegelbilder.
    „Folge uns,
Fuchs.“ Die Stimme war in Tweeds Kopf. „Folge uns.“
    Tweed bellte
gegen den Lärm der Motoren an. „Ich kenne dich, Irrlicht. Und ich fürchte dich
nicht!“ In seiner jetzigen Gestalt konnte Tweed die Sprache der Menschen nicht
sprechen. Aber die Irrlichter hörten seine Gedanken. Sie rührten sich nicht.
Ihre schwarzen Kutten reichten bis zum Boden. Die Öffnungen ihrer Kapuzen waren
düstere Abgründe. Sie neigten die Köpfe.
    „Der
Nachtbringer will dich. Folge uns.“
    „Euch
folgen? Ich soll euch folgen? Dem Schatten folgen? Eure Existenz ist nur ein
Irrtum. Keine Pfote setzte ich in eure unendliche Nacht. Holt mich doch, wenn
ihr könnt!“
    Ein harter
Tritt traf Tweed. Er wirbelte herum, schnappte nach dem Bein des Angreifers.
Doch es war nur weißer Rauch zwischen seinen Kiefern. Hände griffen ihn. Das
Irrlicht hob ihn hoch. Tweed wand sich. Mit aller Kraft biss er zu. Kaltes Blut
füllte sein Maul. Das Irrlicht schrie kreischend und wurde körperlos. Tweed
fiel durch die neblige Gestalt zu Boden. Er landete auf den Füßen. Blut tropfte
von seinen gefletschten Zähnen. Ein harter Schlag traf sein Gesicht. Tweed
schüttelte sich und fixierte knurrend den Feind. „Dieser Fuchs ist noch lange
nicht geschlagen!“ Nebelschwaden stiegen von der verletzten Hand des Irrlichts
auf.
    „Lasst mich
ziehen“, kläffte Tweed. „Das ist nicht mein Krieg!“
    „Er weiß,
wem du dienst.“ Ein Irrlicht scherte seitlich aus, glitt durch die Leitplanke
auf die Fahrbahn. Ein Fahrer riss das Lenkrad herum. Sein Wagen schleuderte
durch das Irrlicht und kam quer zum Stehen. Hupen, Bremsen quietschten.
Ohrenbetäubend krachten die Autos ineinander. Die Irrlichter hatten ihr Ziel
erreicht. Jetzt war die Nacht finster. Sie verschwanden in der Dunkelheit.
Tweed hörte die Schreie der Verletzten, lief auf die Straße. Trümmer von Autos
lagen herum. Die Wracks dampften. Aufgeregte Menschen liefen durcheinander. Es
roch verbrannt. Keiner beachtete den Fuchs. Die Scheinwerfer der Autos, die
nahe der Unfallstelle standen, spendeten noch Licht. Hier würde er die Angreifer
sehen. Aber würde es ihm nützen? Die Straße. Der Unfall würde den Verkehr eine
Weile aufhalten. Allerdings erwartete ihn dort die ungewisse Dunkelheit. Er
rannte los. Aus der Ferne hörte er Sirenengeheul. Hilfe für die Verunglückten
war nah. Was half es ihm. Die Gegenfahrbahn war immer noch zu stark befahren,
um sie zu überqueren. Dann kam der Nebel. Er stieg aus der Fahrbahn auf, viel
zu schnell, um natürlich zu sein. Tweed wurde nicht langsamer, lief einfach
hinein. Geräusche klangen gedämpft in der feuchten Luft. Er sah kaum weiter als
bis zu seiner Nasenspitze. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Er
lief schneller. Der Nebel formte einen Tunnel.
    Ich bin zu
langsam, schoss es Tweed durch den Kopf. Er blieb stehen.

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