Der Sommer des Commisario Ricciardi
dem Alter zu tun?, dachte er. Jeder hat eben seinen Körperbau. Und mit meinem Gewicht kannich den mickrigen Kerl immer noch platt machen, wenn ich mich auf ihn setze. Bei dieser Vorstellung lächelte er.
Wieder schaute er auf die Uhr: Es konnte nicht mehr lange dauern. Er hatte ein gutes Stück laufen müssen, was ihm aber nichts ausmachte. Schließlich war er ein Mann der Tat; in Wohnzimmern zu sitzen und Leute zu befragen, das war nichts für ihn. Er hatte sich in die Nähe der Wohnung der Capeces begeben, wie der Kommissar es ihm beschrieben hatte: eine kleine Tür in einer Sackgasse, die zu einem feuchten, schmutzigen Keller hinabführte. Dort hatte er sich mit Streichhölzern Licht gemacht und tastend nach einem losen Ziegelstein in der Wand gesucht. Dabei waren seine Hände schmutzig geworden; er hatte sie sich später an einem Trinkbrunnen abgespült und sich auch gleich das Gesicht erfrischt. Zwar hatte das alles eine Weile gedauert, doch er hatte etwas gefunden, ganz wie Ricciardi es ihm gesagt hatte. Als er aber vom Kommissar wissen wollte, woher diese Information stammte, war dieser ihm ausgewichen. Maione ging davon aus, dass es wohl ein weiteres Präsent von Ricciardis Ausflug zu den Faschisten gewesen sein musste. Fest stand, dass er jetzt auf einen mutmaßlichen Mörder wartete und unter seinem verschwitzten Arm ein Päckchen aus Zeitungspapier klemmte, in dem sich eine Beretta Kaliber 7,65 befand, die Pistole, mit der aller Wahrscheinlichkeit nach die Herzogin Adriana Musso di Camparino ermordet worden war.
Rosa zog die Hutnadeln heraus und nahm, erhitzt aber zufrieden, ihre Kopfbedeckung ab. Sie war es nicht gewohnt, das Haus am Nachmittag zu verlassen, schon gar nicht im August, doch die Umstände hatten es nun einmal erfordert.
Sie erinnerte sich daran, dass Luigi Alfredo damals als Kind in seinem Heimatdorf von einer Bande Lausbuben drangsaliert worden war – nichts Gefährliches, wohlgemerkt: Sie lachten ihn aus, wenn er vorbeiging, luden ihn ein, mit ihnen zu spielen, und ließen ihn dann allein im Dunkeln oder auf offenem Feld zurück. Der Kleine litt sehr darunter, auch wenn er nie darüber sprach. Sie spürte es an seinem traurigen Blick, wenn er von den Treffen mit den Jungs nach Hause kam. Eines Tages hatte sie die Initiative ergriffen und sich den Anführer der Bande vorgeknöpft, einen großen, dicken Burschen, der vor niemandem Respekt hatte. Zuerst hatte sie versucht freundlich auf ihn einzuwirken, doch angesichts seines verächtlichen Lachens war sie gezwungen gewesen, ihn auf andere Weise zu überzeugen und hatte ihm ein paar saftige Ohrfeigen versetzt. Von da an machte sich niemand mehr über den jungen Herrn lustig, doch er hatte auch immer weniger Kontakt zu den Kindern: Vielleicht war das Heilmittel schlechter gewesen als das Übel.
Diesmal jedoch würde es anders sein: Sie würde niemanden einschüchtern und nicht einmal in direkten Kontakt zu der Person treten, die – bewusst oder unbewusst – das Leiden ihres Kindes verursachte. Um Informationen einzuholen, hatte sie sich der Friseurin bedient, einer notwendigen, aber gefährlichen Vermittlerin. Rosa hoffte, sich die Verschwiegenheit der Frau erkauft zu haben, auch wenn das Schweigegeld übertrieben hoch gewesen war. Die Nachrichten waren allerding prompt eingetroffen, und sie waren wieder einmal erfreulich.
Enrica, die älteste Tochter der Colombos, konnte den Mann, den ihre Eltern ihr aufdrängen wollten, nicht ausstehen – das war bereits bekannt. Außerdem hatte sie kein Verlangen danach, ihn allein zu sehen, und beschränkte ihre Treffen auf die Begegnungen, die unvermeidbar waren – noch besser.
Die wichtigste Neuigkeit allerdings, die sie vor einer Stunde in der Küche der Friseurin erfahren hatte, bestand darin, dass nicht nur Ricciardi Enrica, sondern auch sie ihn beobachtete. Besser gesagt, sie ließ sich von ihm beim Sticken zusehen, und zwar, wie Rosa zu ihrer großen Verwunderung erfahren hatte, seit über einem Jahr – was erklärte, weshalb der junge Herr sich jeden Abend, kaum dass er fertig gegessen hatte, schnell in sein Zimmer zurückzog. Das Mädchen vertraue sich nicht leicht jemandem an, hatte ihr die Frau gesagt, in der offensichtlichen Absicht, sich noch teurer bezahlen zu lassen. Aber ihrer Meinung nach hege Fräulein Colombo mehr als nur Sympathie für Commissario Ricciardi. Er täte sicher gut daran, sich der Familie vorzustellen, und zwar schleunigst, bevor Herr Fiore offiziell um
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