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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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verbrecherisches Potenzial haben.
    Jetzt, im Lichte der neuen Ereignisse, ließ Ricciardi sich dieses Konzept erneut durch den Kopf gehen: Es bedeutete, dass er, um so klar und deutlich begriffen zu haben, wer die Camparino ermordet hatte und warum, selbst mit der Krankheit infiziert sein musste, die zum Verbrechen geführt hatte. Er meinte die Eifersucht. Nennen wir die Dinge ruhig beim Namen, dachte er, während er der ausgestreckten Hand eines Bettlers auswich. Ich habe eine weitere Abart, die x-te Perversion der Liebe kennengelernt, die zu Mord und Tod führt. Und weil ich sie selbst erfahren habe, kann ich sie auch wiedererkennen.
    Die Liebe, der schlimmste Feind, suchte sich oft verschlungene Wege, doch die Eifersucht war kerzengerade. Wie der Hunger, die andere große Ursache für so viele Verbrechen, wirkte sie unerwartet und heftig, hatte jedoch andere Wurzeln, die im Wahn des Egoismus und der Besitzsucht zu finden waren.
    Er sah Maione und Andrea schweigend im Café sitzen. Der Junge blickte ins Leere, hing seinen Gedanken nach;der Polizist starrte die Tür an, in der Hoffnung, die Ankunft des Kommissars werde seinem Unbehagen ein Ende setzen und ihn davon entbinden, einen so jungen Verdächtigen zu bewachen, noch dazu in Zivil und an einem so ungewöhnlichen Ort. Zwischen ihnen auf dem Tisch lag, wie ein ausschlaggebendes Argument, das Päckchen aus Zeitungspapier.
    Ricciardi setzte sich und bestellte einen Kaffee. Andrea hob weder den Blick noch grüßte er ihn. Maione schickte sich an zu salutieren, als ihm einfiel, dass er ja in Zivil war, und so hob er bloß die Hand zum Gruß.
    »Alles so, wie Sie gesagt haben, Commissario. Die Pistole steckte hinter einem Ziegelstein in der Kellerwand. Sie ist sauber, scheint vor Kurzem benutzt worden zu sein. Der junge Mann hier war in der Schule; er ist ohne Widerrede mit mir gekommen.«
    Ohne aufzuschauen sagte Andrea:
    »Also haben Sie uns überwacht. Auch schon, bevor Sie zu uns gekommen sind.«
    Es klang wie eine einfache Feststellung: In der Aussage lag kein Vorwurf, keinerlei moralisches Urteil. Nicht einmal ein Schuldbekenntnis. Ricciardi wollte die Sache klarstellen:
    »Nein, wir haben euch nicht überwacht. Es wurde uns berichtet. In dieser Stadt kümmert niemand sich um seine eigenen Angelegenheiten, das müsstest du schon gelernt haben. Es ist auch nicht wichtig, woher wir es wussten: Was zählt, ist, dass du die Pistole deines Vaters versteckt hast. Warum?«
    Endlich sah Andrea dem Kommissar ins Gesicht und zuckte mit den Schultern.
    »Nur so. Weil ich Lust dazu hatte, ich wollte vor meinen Freunden prahlen. Jungs tun so was.«
    Ricciardi schaute in Andreas traurige, gramerfüllte Augen und dachte, dass sie wohl schon seit Jahren nicht mehr den Blick eines Jungen in sich trugen. Einem anderen Menschen seine Kindheit und Jugend zu stehlen war bislang noch keine Straftat, überlegte er. Doch es sollte eine sein.
    »Lassen wir die Spielchen. Die Sache ist sehr ernst. Unsere Gutachter brauchen höchstens fünf Minuten, um nachzuweisen, dass die Patronenhülse, die wir am Tatort gefunden haben, aus dieser Pistole kam und dass daraus folglich auch die Kugel abgefeuert wurde, die die Herzogin getötet hat. Verschwende also bitte nicht unsere Zeit.«
    Noch immer schaute Andrea den Kommissar stumm und ausdruckslos an. Eine Gruppe lauthals kichernder Mädchen lief an ihrem Tisch vorbei. Ricciardis Ton wurde sanfter.
    »Ich verstehe dich. Warum auch immer du die Pistole versteckt hast, du hast es getan, um deine Familie zu schützen – oder das, was davon übriggeblieben ist. Siehst du, wir sind nicht in Uniform gekommen, um dich zu holen, haben dich nicht ins Polizeipräsidium gebracht. Falls es aber notwendig sein sollte, werden wir es tun: Mord bleibt Mord. Und ganz egal, wer dabei gestorben ist …«
    Der Junge beugte sich vor, wurde blass und kniff die Lippen zusammen. Er glich jetzt einem verzweifelten, tollwütigen Tier, gezwungen anzugreifen, um sich zu verteidigen; seine Stimme war nicht mehr als ein Zischen.
    »Ganz egal, sagen Sie? Wissen Sie denn, wer sie war, Ihre arme ermordete Tote? Aus einer bloßen Laune heraus hat sie das Glück einer ganzen Familie zerstört. Sie sehen ihn jetzt weinen, wie ein Kind. Wissen Sie denn, dass dieser Mann – Sie haben richtig gehört: dieser Mann, denn als Vater werde ich ihn nie wieder ansehen – seit Monaten nicht mehr nach Hause kommt? Ja, ich weiß, was meine Mutter Ihnen gesagt hat. Auch ihr Wahn geht auf die

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