Der Sommer des Commisario Ricciardi
stickig.
Was kann ich Ihnen anbieten? Ihre beiden Wachposten, dürfen die hereinkommen oder müssen sie an der Tür bleiben? Wissen Sie, wir bekommen nicht mehr häufig Besuch. Früher war diese Wohnung der reinste Taubenschlag; mein Mann bildete den Mittelpunkt des kulturellen und politischen Lebens. Wenn Sie gesehen hätten, welche Persönlichkeiten hier ein und aus gingen, wäre Ihnen der Mund offen stehen geblieben. Die Kinder waren noch klein, sie erinnern sich vielleicht gar nicht mehr an all das Kommen und Gehen, oder, Andrea, mein Süßer? Ständig war ich am Kaffeekochen, Tee machen, schleppte Gebäck und Kekse herbei. Nie hat er mir vorher Bescheid gesagt. Ich beschwerte mich nicht, ich war sogar stolz darauf, dass mein Mann so begehrt war.
Haben Sie ihn eigentlich kennengelernt? Ach ja, Sie waren ja neulich mit ihm zusammen hier. Zurzeit ist er ein wenig bedrückt, aber Sie werden sehen, er wird bald wieder ganz der Alte sein. Weil er an seinen Platz zurückgekehrt ist. Sehen Sie, Commissario, ich glaube, dass jeder Mensch seinen Platz hat, und nur dort kann er glücklich sein. An jedem anderen Ort ist er unvollständig und folglich unglücklich. Mein Mann hat immer zu mir gesagt: Sofia, du bist meine Weisheit. Sofia heißt nämlich Weisheit, auf Griechisch, wussten Sie das? Das hat er früher zu mir gesagt. Ich meine, bevor er Adriana kennenlernte.
Möchten Sie wirklich nichts trinken? Einen Kaffee vielleicht? Sie dürfen nicht glauben, dass ich mich sofort damit abgefunden habe, der Sache mit Adriana. Im erstenJahr habe ich sogar sehr gelitten. Unmenschlich gelitten, wie jede Frau, die ihren Mann verliert. Ich habe gekämpft, was denken Sie! Zuerst habe ich ihm gedroht, jeden Abend eine Szene gemacht, Geschirr zerschlagen, ich schrie und er senkte den Kopf, sagte nichts. Dann habe ich es im Guten probiert, habe versucht, ihn zurückzugewinnen, Sie wissen ja, wie eine Frau den Ehemann zurückzuerobern sucht, nun, ich kann nicht deutlicher werden, weil das Kind mit dabei sitzt, aber Sie verstehen schon.
Ich habe gekocht, was ihm schmeckte; aber er kam nicht zum Essen nach Hause, er kam gar nicht mehr. Wenn Sie wüssten, wie viele Kilo an Gottesgaben ich wegwerfen musste, die Straßenköter haben in dieser Zeit gespeist wie die Könige. Ich saß bloß da, die ganze Nacht lang, am Küchentisch, und fragte mich warum, was ich falsch gemacht hatte.
Dabei hatte ich nichts getan, Commissario. Ich war an meinem Platz geblieben, in meinem Haus, bei meinen Kindern, um auf meinen Mann zu warten. Gar nichts getan hatte ich. Sie haben keine Vorstellung davon, was mit einer verlassenen Frau passiert, die dasitzt und wartet. Es ist, als leide sie unter einer ansteckenden Krankheit. Alle, Freunde, Freundinnen, Verwandte, sehen dich zuerst mitleidig an, dann versuchen sie, dir die Augen zu öffnen, und dann bleiben sie allmählich weg, als ob sie sich vor deinen Wunden ekelten. Man bleibt allein mit sich selbst, auf der Suche nach einer Antwort, die es nicht gibt.
Das erste Mal war vor einem Jahr und acht Monaten. Ich erinnere mich noch genau. Es regnete. Eines Abends, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, zog ich mich an und ging hinaus. Es hat mich einfach so überkommen, ich zog mir etwas über und bin im Regen rausgegangen. Ins Theater. Weil ich wusste, dass sie dort waren. Unbemerkt wie ein Engel. Die Heilige Jungfrau, zu der ich stets bete, hat mir das zum Geschenk gemacht: von niemandem gesehen zu werden. Wann immer ich möchte, kleide ich mich dunkel, gehe irgendwo hin und niemand achtet auf mich. So kann ich beobachten, sehen, zuschauen, ohne dass irgendjemand es merkt.
An jenem Abend habe ich sie also gesehen. Sie kamen lachend aus dem Theater, ich weiß nicht, welches Stück sie sich angeschaut hatten. Sie war sehr schön: Was das betrifft, Commissario, muss ich Ihnen sagen, dass Adriana betörend schön war. Elegant, selbstsicher – wie viele Männer hätten ihr wohl widerstehen können? Und wie er sie ansah!
Für mich war es eine regelrechte Offenbarung: Er hatte mich nie so angeschaut, nicht einmal unbewusst. Wirklich, mein Mann hat mich gern, da bin ich mir sicher; aber so angeschaut hat er mich noch nie. Er war völlig hingerissen, als ob er die Sonne ansehen würde. Sie lächelte und er war wie verzaubert.
Von da an bin ich ihnen gefolgt, jeden Abend. Ich habe die Kinder an den Tisch gesetzt, sie zu Abend essen lassen, gewartet, bis sie einschliefen. Ich bin ihre Mutter, mein Platz ist bei
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