Der Sommer des Commisario Ricciardi
Nachmittag war so drückend, dass die Bewegungen der wenigen Personen, die auf den Straßen unterwegs waren, so langsam schienen, als wären sie unter Wasser.
Vom Toreingang aus sah er Sciarra, der den Hof kehrte und versuchte, im Schatten der Säulen zu bleiben. Der Pförtner wandte ihm den Rücken zu und bemerkte seine Ankunft nicht, bis Ricciardi ihn an der Schulter berührte, was ihn mit einem piepsenden Geheul aufhüpfen ließ, wobei er seinen Hut verlor.
»Jesus Maria, Commissario! Sie sind’s. Sie haben mich zu Tode erschreckt! Ich war völlig in Gedanken …«
»Tut mir leid. Sieh doch für mich nach, ob Herr Ettore zu Hause ist, ich möchte ihn sprechen.«
Das Männlein, ganz außer Atem, presste sich eine Hand auf die Brust und hielt in der anderen den Hut, den es vom Boden aufgehobenen hatte. Es staubte ihn ab, so gut es ging, und setzte ihn sich wieder auf den Kopf. Dann sagte es entschuldigend:
»Das Kehren lohnt sich kaum, hier ist sowieso immer alles staubig. Der junge Herr sagt ja, dass ich den Hortensien Wasser geben soll, jetzt, am frühen Nachmittag. Aber wer hat schon Lust, bei dieser Hitze mit dem vollen Eimer hin und her zu laufen? Ich gieße sie einfach abends und hoffe, dass er es nicht merkt. Er ist da, Commissario. Oben bei seinen Pflanzen, wie üblich. Warten Sie, ich gehe mit Ihnen, dann kann ich Sie melden.«
Ricciardi antwortete:
»Ich möchte vorher noch kurz im Vorzimmer der Herzogin vorbeischauen.«
Er ging hinter dem Pförtner den ersten Teil der Treppe hinauf und blieb auf dem Absatz stehen, bis Sciarra die Tür geöffnet hatte. Dabei blieb ihm das Unbehagen des Männleins nicht verborgen, doch das war für ihn nichts Neues: Ponte, die Polizisten, manchmal sogar Maione – ihnen allen schien es, als käme er von einem anderen Stern, zur Einsamkeit verdammt, und dazu, von ihnen gemieden zu werden wie die Pest.
Er betrat das Zimmer, das mittlerweile wieder sauber und hergerichtet war, als ob nichts geschehen wäre. Doch etwas war darin geschehen; davon zeugte Adrianas noch zu erkennende, wenngleich allmählich verblassende Silhouette, die aus derselben Ecke, in der er sie vor nunmehr sechs Tagen gesehen hatte, leise zu ihm sprach.
»Der Ring, der Ring, du hast den Ring weggenommen«, hauchten die geschwollenen Lippen der Toten. Zwischen ihren großen, weißen Zähnen ragte eine schwarze Zungenspitze hervor. Ricciardi betrachtete sie still, die Hände in den Hosentaschen, mit aufgeknöpftem Kragen und gelöster Krawatte. Er fragte sich, warum Adrianas letzter Gedanke dem Schmuckstück galt und nicht einer letzten Beschimpfung oder einem Gefühl des Bedauerns.
Er wandte sich um, nickte Sciarra zu und folgte ihm die Treppe hinauf zu Ettores Wohnung. Der Sohn des Herzogs befand sich auf der Terrasse, über einen Strauch gelber Rosen gebeugt. Er stand mit dem Rücken zu den beiden Männern und schnitt die zarten Zweige behutsam und sehr konzentriert mit einer Gartenschere zurück. Ohne erkennen zu lassen, dass er Sciarras Anwesenheit bemerkt hatte, der mit dem Hut in der Hand darauf wartete, Ricciardi zu melden, sagte er nach einer Weile:
»Bitte, Commissario, treten Sie näher. Kennen Sie die Geschichte der gelben Rosen? Sciarra, du kannst gehen.«
Sichtlich erleichtert machte der Pförtner sich rasch aus dem Staub; es lag klar auf der Hand, dass er die Gesellschaft des Kommissars und des jungen Herrn nicht besonders schätzte. Ricciardi blieb in der Terrassentür stehen.
»Nein, bisher nicht. Müsste ich sie kennen?«
Ettore richtete sich auf und wandte sich seinem Gast zu, wobei er sich mit dem Ärmel die verschwitzte Stirn abwischte.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Es ist eine Geschichte aus dem arabischen Raum: Mohammed zweifelte an der Treue seiner Lieblingsfrau, der wunderschönen Aisha. Er fragte einen Engel, wie er die Wahrheit herausfinden könne; dieEngel sind fast allen Religionen gemeinsam, wissen Sie. Der Engel riet ihm, seiner Frau rote Rosen zu schenken und sie dann zu benetzen: Wenn die Rosen ihre Farbe veränderten, sei Aisha ihm untreu gewesen. Mohammed brachte ihr die Blumen und richtete es so ein, dass Aisha sie in den Fluss fallen ließ. Die Rosen wurden gelb. Gelb ist die Farbe der Eifersucht, der verratenen Liebe.«
Ricciardi hörte im Geiste die Stimme Sofia Capeces, die erklärte, ein Todesengel zu sein. Er dachte an die Eifersucht, die sie so wahnsinnig gemacht hatte, dass sie Adriana sogar dafür bestrafen wollte, ihren Mann betrogen zu
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