Der Sommer des Commisario Ricciardi
verlangt, den Kerl zu heiraten. Gerade jetzt, als Enrica zum Schaufenster hinaussah, entdeckte er noch einmal denselben wilden Blick an ihr.
Da sitzt sie ja, dachte Enrica. Ganz allein und mit Zigarette mitten in der Öffentlichkeit. Woher nimmt sie nur diese Unverfrorenheit? Und ausgerechnet zu der Zeit, zu der er immer seinen Kaffee trinkt. Ich weiß Bescheid, schließlich komme ich extra jeden Tag in den Laden, um ihn zu sehen, jetzt, wo ich abends am Fenster keine Gelegenheit mehr dazu habe. Sie ist wirklich schön und elegant, gar nicht ordinär, wie ich der Friseurin gesagt habe, damit sie es seiner Haushälterin erzählt.
Was habe ich dagegen schon zu bieten? Warum sollte er sich am Ende für mich entscheiden, wenn er so eine Frau haben kann? Selbst wenn ich mich wie sie kleiden würde, sofern ich mich nicht schämte, den Blicken der Männer zu begegnen, ich wäre niemals so attraktiv. Aber ich liebe ihn aus ganzem Herzen und möchte ihn auf keinen Fall aufgeben müssen. Ich weiß, dass sie auf ihn wartet. Und er wird sich zu ihr setzen, um sich zu unterhalten; vielleicht küsst er sie sogar, wie letztes Mal. Mir wird das Herz brechen, genau wie neulich. Aber ich muss es schaffen zu warten und hinzusehen.
Man kehrt der Liebe nicht den Rücken.
Man kehrt der Liebe nicht den Rücken, dachte Ricciardi, als er die Via Toledo hinaufging: Das hatten sowohl Ettore Musso als auch Achille Pivani gesagt. Und Don Pierino sagte, dass man zumindest einmal im Leben die Initiative ergreifen muss.
Nur welche Initiative? Sollte er dem Menschen, den er liebte, sein Kreuz aufladen, sein Leiden? Sollte er ihr, vielleicht bei einem Spaziergang an einem Sommernachmittag, sagen müssen, du Schatz, entschuldige bitte, ich hab nicht zugehört, weil, weißt du, du kannst es zwar nicht sehen, aber dort an der Ecke, genau bei dem Blumenladen, schreit ein kleiner Junge mit gebrochenem Genick nach seiner Mama, das hat mich abgelenkt? War das der Mann, den er seiner Angebeteten zu bieten hatte?
Andererseits wollte er sich selbst auch nicht belügen: Der Anblick Enricas mit dem gut gekleideten Burschen quälte ihn noch mehr als die farblosen Toten, die seinen Weg säumten. Er konnte nicht mit ihr, doch auch nicht ohne sie sein. Seufzend schaute er auf: Buchhandlung Treves, las er. Kopfschüttelnd trat er ein.
Livia sah ihn ankommen, mit gesenktem Blick und einem Buch in der Hand.
Zuerst bemerkte er sie nicht und ging auf die Theke zu, also stand sie auf und winkte ihm. Auf der anderen Straßenseite schlug Enrica das Herz bis zum Hals. Verlegen und mit einem flüchtigen Blick auf die neiderfüllten Gäste an den umliegenden Tischen setzte Ricciardi sich zu der eleganten Fremden, die ihn aus zwei wunderschönen schwarzen Augen strahlend ansah.
»Endlich! Dabei hat man mir gesagt, dass du es nie lange aushältst ohne Kaffee. Ich warte schon seit Stunden auf dich.«
Ricciardi steckte sichtlich in Schwierigkeiten, wie jedes Mal, wenn Livia offen zu verstehen gab, dass sie sich von ihm angezogen fühlte.
»Ich war … ich musste noch jemandem ein paar Fragen stellen. Ich hatte keine Ahnung, dass du herkommen würdest. Und, weißt du, die Arbeit …«
Lachend unterbrach sie ihn:
»Ach was, nun lass doch mal die Arbeit. Außerdem weiß ich schon alles über deinen Fall und seinen brillanten Abschluss. Ich bin deinem Kollegen Garzo in die Hände gefallen, dem alten Süßholzraspler: Er hat mir von deinen Heldentaten erzählt, wollte mich gar nicht mehr weglassen. Ich sagte ihm, ich wüsste schon, dass du ein Held bist. Mein Held, um genau zu sein.«
Ricciardi runzelte die Stirn.
»Zunächst mal ist Garzo kein Kollege, sondern mein Vorgesetzter. Und ganz sicher nicht mein Busenfreund. Und: Hier gibt’s keine Helden. Der Mörder hat gestanden, das ist alles.«
Livia wischte seine Einwände mit einer verärgerten Handbewegung weg.
»Egal, ich bin nicht deshalb hier. Ich habe dir ein paar wichtige Dinge mitzuteilen: Erstens habe ich beschlossen, eine Zeit lang in eurer wunderschönen Stadt zu bleiben. Ich habe schon einen alten Bekannten beauftragt, mir eine Wohnung zu suchen.«
Ricciardi bekam vor Staunen den Mund nicht zu.
»Wie, eine Wohnung? Wozu denn?«
Sie lächelte.
»Warum soll ich denn noch länger im Hotel bleiben? Eine Wohnung wird viel bequemer sein. Dann kann ich jemanden einstellen und endlich auch Gäste empfangen. Glaubst du nicht, dass ein wenig Gesellschaft mir gut tun wird?«
Ricciardi zuckte mit den
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