Der Sommer des Commisario Ricciardi
dann lachte sie. Ihr war klar, dass jemand … wie ich sein musste, um sie zurückzustoßen; wahrscheinlich war ihr das noch nie passiert. Von da an ließ sie keine Gelegenheit aus, um mich zu demütigen, sich über mich lustig zu machen. Sie sagte es sogar meinem Vater, der es nie bemerkt hatte oder wenigstens so tat, als merke er nichts. Seit diesem Zeitpunkt reden wir nicht mehr miteinander.«
Wie nebenbei bat Ricciardi ihn:
»Erzählen Sie mir von dem Ring.«
Ettore zuckte zusammen, als habe er ihn geohrfeigt.
»Dem Ring? Was wissen Sie darüber?«
Ricciardi antwortete unbeeindruckt:
»Die Autopsie hat ergeben, dass der linke Mittelfinger der Herzogin ausgerenkt ist, was nach dem Tod erfolgt sein muss, da es keinen Bluterguss gibt. Es liegt klar auf der Hand, dass jemand einen Ring weggenommen hat, den sie trug, und dieser jemand können nur Sie sein: Sie sind der einzige, der nach ihrem Tod nach Hause kam.«
Ettore starrte ins Leere, als spräche er mit sich selbst.
»Ich liebe ihn. So sehr, wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Ich glaubte nicht einmal, dass es möglich wäre,so sehr zu lieben. Wir verstecken uns, haben schon etliche Male versucht, es zu beenden. Ich habe dagegen angekämpft, wir kämpften alle beide. Aber die Liebe lässt sich nicht bekämpfen. In jener Nacht kam ich glücklich nach Hause und fand sie tot auf dem Sofa, die Schlampe, mit einem Kopfschuss. Die Tür stand offen. Eine Hand hing herab, am Finger trug sie den Ring meiner Mutter, ihren Verlobungsring. Sie war nicht würdig, ihn auch nur anzusehen, stattdessen trug sie ihn, als ob er immer ihr gehört hätte. Ich riss ihn ihr aus, richtig, mit aller Kraft. Und nahm ihn an mich. Er liegt dort in der Schublade; hin und wieder nehme ich ihn heraus und poliere ihn. Aber die Schlampe hat ihn für immer beschmutzt. Das ist nicht mehr der Ring meiner Mutter. Es ist, als wäre sie dadurch ein zweites Mal gestorben.«
XLIV In dieser Stadt schien es einfach undenkbar zu sein, dass eine Frau allein im Café saß, ohne belagert zu werden, dachte Livia amüsiert, während sie im Gambrinus darauf wartete, dass Ricciardi die Via Chiaia entlangkam, wie man es ihr im Präsidium gesagt hatte.
Sie hatte einen Tisch im Freien gewählt, um nicht Gefahr zu laufen, ihn zu verpassen, und beobachtete mit vorgetäuschtem Interesse die Spaziergänger, während mindestens zehn Männer sie mit ihren Blicken verschlangen.
Zehn Männer und eine Frau, um genau zu sein.
Die ersten langen Abendschatten fielen in Giulio Colombos Hutgeschäft, doch er merkte nichts davon. Ebenso wenig bemerkte er, dass die vor ihm stehende Kundin ihnum einen Preisnachlass bat. Sie musste ihre Bitte in einem noch jämmerlicheren Tonfall wiederholen, denn Giulio Colombo war damit beschäftigt, seine Tochter zu beobachten, die unbeweglich hinter dem Schaufenster stand und hinausblickte wie ein Raubtier auf der Lauer nach Beute.
Das Mädchen beunruhigte ihn allmählich. Noch nie hatte Enrica ihre Gemütszustände offenbart, doch meistens war es ihm ein Leichtes, sie zu durchschauen, da sie ihm selbst so ähnlich war. Seit einiger Zeit allerdings sah er sie oft mit finsterer Miene oder roten Augen, als habe sie geweint. Offensichtlich wurde sie von ungewohnten Gedanken gequält, schien aber nicht darüber reden zu wollen, und ebenso wenig war ihrem Vater danach, sie darauf anzusprechen. Die Mutter hatte natürlich nichts bemerkt und die Sache heruntergespielt, als Giulio mit ihr über seine Sorgen reden wollte. Sie verliebt sich eben endlich in Sebastiano, hatte sie geantwortet. Das bisschen Liebeskummer wird schon vorbeigehen.
Giulio dagegen hatte den Eindruck, dass der Zustand von Tag zu Tag schlimmer wurde. Auch war ihm klar, dass der Sohn der Fiores nicht das Geringste mit der seelischen Verfassung seiner Tochter zu tun hatte. Seit ein paar Tagen kam Enrica regelmäßig nachmittags ins Geschäft und starrte eine Stunde lang nach draußen. Und wenn der junge Mann unter einem Vorwand hereinkam, um mit ihr zu plaudern, fertigte sie ihn kühl ab.
Giulio selbst hatte die Hoffnung auf eine Verlobung der beiden in dem Moment beerdigt, als er ein paar Abende zuvor Enricas Blick auffing, während Sebastiano sich anschickte, seinen Café mit dem ihm eigenen fürchterlichen Schlürfen zu sich zu nehmen. Ein scharfer, bitterböser Blick war es gewesen, doch er konnte es seiner Tochter nicht verübeln: Auch ihn reizte das Geräusch, und bis jetzt hatte niemand von ihr
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